Society | SALTO Gespräch

Was würde Jesus tun?

Seit 500 Jahren leben die Hutterer nach dem urkommunistischen Prinzip. Buch-Autor Helmut Luther hat sich auf Spuren-Suche in Nord-Amerika gemacht.
Hutterer
Foto: Helmut Luther
  • Vor Kurzem ist im Raetia Verlag das neueste Buch von Helmut Luther mit dem Titel „Aus der Zeit gefallen“ erschienen. Darin beschreibt er das Leben und die Welt der Hutterer, einer protestantischen Glaubensbewegung, deren Namen auf Jakob Hutter zurückgeht. Hutter, um 1500 bei St. Lorenzen geboren, wurde zum Anführer des Tiroler Täufertums, deren Anhänger über Jahrhunderte hinweg verfolgt und vertrieben wurden, bis sie schließlich in den USA und in Kanada eine neue Heimat gefunden haben.

     

    SALTO: Herr Luther, wie sind Sie auf die Hutterer aufmerksam geworden bzw. was hat Sie dazu veranlasst, ein Buch über diese Glaubens-Gemeinschaft zu schreiben?

    Helmut Luther: Im Raetia-Verlag werden ausschließlich Werke mit einem lokalen Bezug publiziert. Als ich mich auf die Suche nach einem Thema gemacht habe, fiel die Wahl recht bald auf die Hutterer, mit denen ich mich bereits seit Längerem beschäftige, da mich alternative Gesellschaftsformen seit jeher fasziniert haben. 

  • Helmut Luther: „Als ich mich auf die Suche nach einem Thema gemacht habe, fiel die Wahl recht bald auf die Hutterer, mit denen ich mich bereits seit Längerem beschäftige, da mich alternative Gesellschaftsformen seit jeher fasziniert haben.“ Foto: Privat

    Was ist an den Hutterern so besonders?

    Die Gesellschaft der Hutterer ist eine Gesellschaft der Besitzlosigkeit und von tiefer Religiosität geprägt. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass eine radikal bescheidene und zurückgenommene Gesellschaft nur funktioniert, wenn ihr eine religiöse Basis zugrunde liegt. Andernfalls tauchen Zweifel auf und damit auch kritische Fragen. In dieser Lebensweise geht es darum, den Gemeinschaftssinn vor das Ich zu stellen. Während dem sowjetischen Kommunismus nur ein kurzes Leben beschieden war, ist es ihnen gelungen, den Kommunismus bis heute zu leben. Ich wollte den Ursachen dafür auf den Grund gehen.

    In welcher Sprache haben Sie sich mit den Hutterern verständigt?

    Im Gegensatz zu den Amish, die Plattdeutsch sprechen, versteht man als Südtiroler die Sprache der Hutterer ohne Probleme. Das kommt daher, dass ihre Vorfahren zum Teil aus Tirol stammten. Um 1500 mussten sie jedoch Tirol, sie ließen sich vorübergehend in Böhmen und Mähren nieder, zogen von dort in die Walachei, die damals zum Zarenreich gehörte. Aber auch im zaristischen Russland wurden die Hutterer verfolgt, weil sie den Wehrdienst verweigerten, und so emigrierten sie in die USA. Dort ereilte sie während des Ersten Weltkrieges allerdings dasselbe Schicksal, weshalb sie sich entschlossen, 1918 nach Kanada auszuwandern. Heute leben rund 45.000 Hutterer vorwiegend in Kanada, einige Gemeinden gibt es aber auch in den USA. Es handelt sich dabei um drei verschiedene Gruppen, die in kleinen Gemeinden mit rund 100 bis 200 Personen auf den sogenannten Bruderhöfen leben. 

  • Worin unterscheiden sich diese drei Gruppen?

    Es gibt streng Konservative, mäßig Konservative und liberale Hutterer. Die Angehörigen der liberalen Gruppe sprechen dabei immer weniger Deutsch bzw. besteht die Gefahr, dass die jungen Generationen die deutsche Sprache verlernen. Viele verlassen die Gemeinschaften, vor allem aus den liberalen Gruppen. In der englischsprachigen Umgebung verlernen sie mit der Zeit das Hutterische. Ich habe deshalb meine Zweifel, ob die deutsche Sprache auf lange Sicht überleben wird. Wobei die Hutterer selbst erklären, dass die Sprache eigentlich nicht so wichtig sei und nur der Glaube zählt. Sie sind Anhänger einer protestantischen Religion, in deren Zentrum die „Lehre“ steht, die Verkündigung des Wort Gottes aus der Bibel. In den Gottesdiensten, die sie als „lehr“ bezeichnen, wird aus 300 Jahre alten Büchern vorgelesen. Die Sprache spielt insofern eine wichtige Rolle, weil die Gebetsbücher in der Sprache Luthers, einem alten Deutsch verfasst sind. Ich bin ziemlich sicher, dass sie die meisten Gebete in dieser Sprache nicht verstehen. 

  • „Die Keimzelle der Spaltung ist der Individualismus.“

  • Zum Autor

    Helmut Luther wurde 1961 in Meran geboren, studierte in Innsbruck Philosophie und Geschichte und arbeitet seit 35 Jahren er als Lehrer für Deutsch und Geschichte an einer Meraner Oberschule. Als Autor hat er sich vor allem einen Namen als Verfasser von Reisereportagen gemacht, die unter anderem in der FAZ, der Welt und in der Süddeutschen Zeitung erschienen sind. Neben verschiedenen Reisebüchern hat er unter anderem auch eine Biographie über Ezra Pounds Tochter Mary de Rachewiltz geschrieben, die in Südtirol aufgewachsen ist. Für sein Buch über die Hutterer hat Helmut Luther mehrere Kolonien besucht, so die sogenannten Schmiedeleute in der Kolonie Crystal Spring, Manitoba, und die „Darius-Leute“ in Ontario (Birch Hills, Codesa, Lomond, Pine Meadows und Albion Ridge).

    Die Hutterer faszinieren nicht nur wegen ihrer Religion, sondern vor allem auch wegen ihrer kommunitären Lebensweise, die allerdings nur zu funktionieren scheint, wenn die Gemeinschaft „klein“ bleibt. 

    Eine Gemeinschaft wird nach Erreichen einer bestimmten Größe geteilt und es wird eine neue Kolonie gegründet, in der die Hälfte der Bewohner umzieht. Die Hutterer begründen das mit der Pflege der sozialen Beziehungen. In einer Gemeinschaft mit nicht mehr als rund 200 Personen kennt jeder jeden. Jeder ist in dieses Gefüge integriert, jedem wird sein fester Platz zugewiesen.  Damit wird vermieden, dass sich verschiedene Gruppen bilden. 

    Das Entstehen von Gruppierungen führt zu anderen Meinungen und Diskussionen und damit zu einer Spaltung?

    Die Keimzelle der Spaltung ist der Individualismus. Die Hutterer stellen damit den Gegenpol zu unserer heutigen Welt dar, wo Selbstverwirklichung und Individualismus das oberste Gebot sind. Wir erleben ein Auseinanderbrechen der Gesellschaft, die Abkehr vom Solidaritätsgedanken und einer maximalen Selbstverwirklichung. Das geht soweit, dass man neuerdings auch sein Geschlecht selbst bestimmen kann. Daran zerbricht unsere Gesellschaft, während bei den Hutterern jeder gleich ist. Damit die Kontrolle gegeben ist, muss die Gemeinschaft eine überschaubare Größe haben. Aufgrund des Kinderreichtums wird eine Gemeinschaft alle 20 bis 30 Jahre geteilt. Die Gründung eines neuen Hofes kostet rund 70 Millionen Dollar, die sie durch ihren Fleiß und ihre Geschäftstüchtigkeit erwirtschaften. 

  • Kommunismus und wirtschaftlicher Erfolg gehen Hand in Hand? 

    Der kommunistische Gedanke wird bei den Hutterern vorgelebt und hat seinen Ursprung in der Bibel, wobei auch der Kommunismus seine Wurzeln im Religiösen hat. Die Hutterer leben nach dem Prinzip „Einer trage des anderen Last“ und der Regel „Jeder gebe, was er kann, jeder bekomme, was er braucht“. Nachdem die Hutterer bereits von Kindesbeinen an zu diesem Gemeinschaftsleben erzogen werden, funktioniert das Zusammenleben. Bei ihnen gilt aber auch: „Gib dem Kaiser, was des Kaisers ist“ – anders ausgedrückt geht es ohne Geld in der Welt halt auch nicht, weshalb man als Wirtschaftsbetrieb bestehen muss. Wenn man sechs Tage in der Woche viel und lange arbeitet, nie Urlaub nimmt und auch sonst keine Ansprüche stellt, dann hat man im Vergleich zu anderen natürlich einen erheblichen Vorteil. Die Hutterer betreiben große Farmen, die wirtschaftlich sehr erfolgreich sind und wofür sie auch beneidet werden. 

  • Zu Besuch bei den Schmiedeleuten in der Kolonie Crystal Spring, Manitoba: Das Leben der Hutterer besteht aus beten und arbeiten. Foto: Helmut Luther
  • Sie sprachen davon, dass auch der Kommunismus seine Wurzeln im Religiösen hat.

    Ich würde den Kommunismus als Ersatzreligion, als eine verweltlichte Religion bezeichnen. Religionen und Ideologien unterliegen allerdings der Gefahr, dass Götter gestürzt werden können, aber dennoch das goldene Kalb sprich ein Götze angebetet wird. Auch dabei handelt es sich um religiöse Energie, die aber auf ein falsches Ziel gelenkt wird. Heute beten wir zu den Götzen Konsum und Reichtum. Offenbar liegt es in der Natur des Menschen, das er etwas braucht, das er verehren und vor dem er auf die Knie gehen kann. Deshalb spielen die „guten Hirten“ bei den Hutterern eine zentrale Rolle, die das eigentliche Ziel wieder in den Vordergrund rücken. In ihren Versammlungsräumen steht meistens der Satz zu lesen: Was würde Jesus tun? Das ist ein Aufruf, sich jeden Moment des Lebens diese Frage zu stellen. Jesus ist dabei jemand, der anderen die Füße wäscht und sich zum Diener der anderen macht. 

    Südtirol ist – noch – sehr geprägt von seinen Traditionen. Welche Rolle spielen Liedgut, Geschichten oder Tracht für die Hutterer? Oder gibt es neben Jesus keinen Platz für solche Dinge?

    Über die Frage, welche Rolle die Tracht – damit bezeichnen sie ihre Kleidung – im Leben einnehmen soll, gibt es einen Streit zwischen den Gemeinden. Identität hat auch mit Kleidung zu tun, das ist in unserer Gesellschaft genauso wie beispielsweise bei den Moslems. Kleidung stiftet Identität und hält eine Gemeinschaft zusammen. Die Liberalen sagen, dass die Tracht wichtig ist, weil sie sich damit von allen anderen unterscheiden. Sie sagen aber auch, dass die Tracht nicht zur leeren Hülle werden darf. Wichtig ist, was in der Tracht steckt. Eine leeres Gewand, das nur mehr der Folklore dient, wird die Kultur nicht am Leben erhalten. Brauchtum ist wichtig, aber nur wenn sie dem Erhalt der Kultur dient. Sie wollen so leben, wie man leben muss, um am jüngsten Gericht gerettet zu werden. Es gibt viele, die glauben, dass die Apokalypse bevorsteht und auch die Hutterer sagen, dass sich die Zeichen dafür mehren. 

  • „Offenbar liegt es in der Natur des Menschen, das er etwas braucht, das er verehren und vor dem er auf die Knie gehen kann.“

  • Sind sie davon überzeugt, dass sie zu den Geretteten gehören werden?

    Ich habe ihnen die Frage gestellt, ob sie glauben, dass nur Hutterer in den Himmel kommen. Die Antwort darauf war interessant, denn sie lautete Nein und die Begründung dafür war: Viele Hutterer, die recht leben sollten, es aber nicht tun, werden nicht in den Himmel kommen. Es geht darum, Gottes Gebote zu befolgen – jene wird Gott auswählen. Wenn man sich für etwas besseres hält, ist man von Hochmut befallen und das steht wiederum im Widerspruch zu ihrem Glauben, wobei sich verschiedene Gruppen gegenseitig das Hutterertum absprechen.

    Es gibt einen Gelehrten-Streit unter ihnen, was es bedeutet Hutterer zu sein?

    Nein, das ist keine Auseinandersetzung auf intellektueller Ebene. In vielerlei Hinsicht fühle ich mich diesen Gemeinschaften sehr nahe und sie haben mir auch gesagt, dass sie ein Plätzchen für mich hätten. Aber der Kopf, sprich das Intellektuelle, spielt bei ihnen keine Rolle, weshalb es in dem Sinne auch keine Gelehrten gibt. Hutterer sind Arbeiter, weshalb auch die Zeit fehlt, ausgiebig zu studieren oder sich Wissen anzueignen. Zudem wird Wissen auch als Gefahr gesehen.

    In welcher Hinsicht?

    Beispiel Evolutionstheorie. Sie wollen nicht zu große Bekanntschaft mit der modernen Welt und der Wissenschaft machen, weil sie ansonsten damit konfrontiert werden, dass die Welt eben nicht in sieben Tagen erschaffen worden ist. Zudem haben sie die Erfahrung gemacht, dass jene, die studieren durften, der Gemeinde den Rücken gekehrt haben. Leben in dieser Gemeinschaft bedeutet auch Verzicht und manchmal sind die Verlockungen eben zu groß. 

  • Buch & Lesung

    „Aus der Zeit gefallen“, Mein Besuch bei den Hutterern in Nordamerika, von Helmut Luther, franz. Broschur | 16,5 × 24 cm | 272 Seiten
    Euro 27,50 [I]; 29,90 [D/A]
    ISBN: 978-88-7283-898-3

    Die Stadtbibliothek Brixen hat gemeinsam mit der Edition Raetia, dem Verein Heimat Brixen und dem Hutterer-Arbeitskreises Tirol & Südtirol am 1. Dezember eine Lesung mit dem Autor veranstaltet. Die nächste Buchvorstellung findet am 4. Dezember im Palais Mamming Museum in Meran statt. 

    Wie funktioniert das „politische“ Gefüge in diesen Gemeinden? 

    Es gibt mit dem Prediger ein geistliches Oberhaupt, daneben gibt es aber auch ein weltliches Gremium, an dessen Spitze der „Farm Manager“ steht oder „Säckelmeister“ wie es im alten Deutsch heißt, sprich derjenige, der den Geldbeutel hat. Jeden Tag werden im Rat gemeinsame Treffen mit Unter-Leitern abgehalten, um über die jeweiligen Arbeiten des Tages zu sprechen. Im sogenannten Bruder-Rat, einer sehr basis-demokratischen Einrichtung, in der nur die getauften Männer vertreten sein dürfen, wird beispielsweise entschieden, wer welche Aufgabe oder Arbeit übernimmt. 

    Über die Köpfe der Betroffenen hinweg?

    Ja, über ihre Köpfe hinweg. Man darf nicht werden, was man will. Man hat das zu tun, was die anderen entscheiden. Natürlich werden dabei die Fähigkeiten und Talente des einzelnen berücksichtigt. Es ist aber eine Art Demutsschule, so arbeitet beispielsweise der Lehrer als Schweinehirte. 

    Was könnte unsere Gesellschaft von den Hutterern lernen?

    Die Welt und die Menschheit werden untergehen, wenn wir unseren Egoismus nicht bändigen. Wir dürfen nicht immer alles auf andere schieben und von den Politikern oder anderen fordern, dass sie dieses und jenes tun sollen. Man muss bei sich selber anfangen, das ist die Lehre daraus. Bei sich selbst mit der Veränderung zu beginnen, ist allerdings das Schwierigste. 

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Klemens Riegler Sun, 12/03/2023 - 23:04

Irgendwie faszinierend das Ganze ... speziell beim Gedanken wonach der Gründer tatsächlich um 1500 in St. Lorenzen geboren wurde, und seine Gesellschaftsform 500 Jahre überlebt hat. Und das beste daran scheint wohl der Umstand zu sein, dass die Hutterer in 500 Jahren keinen Krieg angezettelt oder mitgespielt haben, ... nur ausweichen mussten.

Sun, 12/03/2023 - 23:04 Permalink