Erinnerungs-Muss
die sonne scheint dort unten
wenn wir sie nur sehen wollen.
einem künstler ist es tagtäglich
gelungen. und uns?
… diese poetischen Zeilen stehen in vier Sprachen auf einer Plakette, ganz unscheinbar, an einer Wand in der Dr.-Joseph-Streiter-Gasse in Bozen. Hinter der Mauer mit der sonnigen Aufschrift war einst das Atelier des Künstlers Guido Anton Muss. Als Sohn von Matthias Mosna und Maria Prinoth wurde der kleine Guido Anton am 16. Dezember 1941 geboren. Am 3. März 2003 verstarb Muss nach langer Krankheit mit nur 62 Jahren.
Vis-à-vis zur Plakette führt eine Gasse direkt in die Bozner Lauben. Es ist nicht irgendeine Gasse, die hier nach Muss benannt wurde, hier hat auch der große Regisseur Pier Paolo Pasolini (für seinen 1971 erschienenen Decameron) einen Trauerzug durchziehen lassen.
Wer die Gasse geradewegs durchschreitet, anschließend die Laubengasse überquert und am Waaghaus entlang über den Kornplatz weiterzieht, trifft (seit der gestrigen Eröffnung) im Bankgebäude der Sparkasse auf allerhand Muss-Kunst, die also genau 20 Jahre nach seinem Ableben an den Künstler erinnert. Im Schalterraum des Geldinstituts wartet auf die Besucher*innen ein in seiner Schwere luftiger Hingucker. Es ist ein großer Centauro aus Holz. Kleinere Arbeiten des Künstlers stehen und hängen nur einen Stock darüber.
„Die Ausstellung soll eine Erinnerung sein“, erklärt Tochter Karin Mussner im Gespräch mit Salto. Ihr Vater sei ein „manischer Künstler gewesen“, bei welchem es paradoxerweise die absolute Perfektion nicht gab. Eine Arbeit war nämlich „nie wirklich fertig, da es immer etwas zu verbessern gab.“ Tag für Tag ging er „mit Freude seiner Arbeit“ nach, ohne allerdings das Wort Arbeit in den Mund zu nehmen: „Ich gehe ins Studio,“ sagte er einfach, „das war's.“
Holz, Bronze, Zement und Gips prägten das handwerkliche Schaffen von Guido Anton Muss. Seine Lehre absolvierte der junge Künstler bei Holzschnitzer Bruno Vinatzer in Wolkenstein. Dort besuchte er auch die Kunstschule. Anschließend ging er nach Florenz und setzte, dank eines Stipendiums, seine Studien am Istituto d’Arte fort. 1962 machte er den Abschluss zum Kunstlehrer in Fano und hängte noch eine weitere Lehrerausbildung in Venedig an. In der Lagunenstadt lernte er nicht nur seine spätere Frau Mimma – auch Mutter seiner Töchter Martina und Karin – kennen, sondern begann neben der Unterrichtstätigkeit auch erste Aufträge anzunehmen, beispielsweise für eine Pietà in der Chiesa di San Nicolò dei Mendicoli. 1969 kehrte Muss nach Südtirol zurück, nach Bozen.
Wenige Jahre später nahm Guido Anton den Nachnamen seines Vaters (Mussner) wieder an, der während des Faschismus in Mosna zwangsitalianisiert worden war. Er begann seine Kunst fortan mit Muss zu unterzeichnen. Doch in seinem Frühwerk finden sich – das zeigt auch die aktuelle Ausstellung in der Sparkasse –, einige Arbeiten, die er mit Prinoth (Nachnamen der Mutter) signierte.
Ende der 1970er Jahre gelang dem Künstler der Durchbruch, Muss gewann Preise und Wettbewerbe und erhielt zahlreiche Aufträge. Seine Unterrichtstätigkeit gab er auf, verstärkte hingegen seine Reisetätigkeit. Im französischen Saint Louis und in New York stellte er in den 1990er aus, das Museum für Moderne Kunst in Mexiko City erwarb Mitte der 1990er einige seiner Arbeiten. Um die internationale Anerkennung des Künstlers kümmerte sich vor allem die berühmte Galleria Ravagnan (an der Piazza San Marco) in Venedig.
Auch in Südtirol ist Muss erfolgreich unterwegs. Über 100 Werke werden seit 1999 im ladinischen Museum Ladin ´Ciastel de Tor in St. Martin in Thurn aufbewahrt, wo ein großer Teil im Spätsommer 2023 im Rahmen einer großen Muss-Ausstellung gezeigt werden wird. Seine letzte Arbeit, der sogenannte Toro, befindet sich am Bozner Obstplatz, am Eingang zu den Bozner Lauben. Sie lässt zu seinem 20. Todesjahr eine nicht uninteressante Jubiläums-Überlegung aufkommen: Die erste Ausstellung machte der Künstler vor genau 60 Jahren, in Pergine. Dort soll er eine Holzskulptur gegen einen Maßanzug eines Schneiders eingetauscht haben. Ein besseres "Geschäft" hätte er damals unter den Bozner Lauben wohl nie machen können. Oder? Bzw.: Und heute?