Wohnortnahe Versorgung - was bringt das?
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Ähnlich wie in meinen bisherigen Beiträgen zum Gesundheitswesen werden wir die Thematik anhand eines Vergleichs zwischen Österreich und Südtirol/Italien beleuchten.
Wer die Gesundheitsversorgung planen und weiterentwickeln will, muss einen abstrakten Blick auf die Thematik entwickeln und die Gesundheitsversorgung in Teilbereiche untergliedern.
Einerseits kann man zwischen ambulanten und stationären Angeboten unterscheiden: Ambulante Versorgung bedeutet, dass der Patient am selben Tag nach Hause geht, wie z.B. beim Zahnarztbesuch oder auch bei Untersuchungen wie Magenspiegelungen. CT, MRT etc. Ambulante Behandlungen können in Krankenhäusern („intramural“), aber auch außerhalb von Krankenhäusern („extramural“) stattfinden. Eine Behandlung ist dann stationär, wenn der Patient dafür in einer Einrichtung wie einem Krankenhaus oder einer Reha-Einrichtung nächtigen muss.
Es gilt alte Denkmuster zu überwinden und die vielleicht für manche Ärzte unangenehme Frage zu stellen: Braucht es für XY überhaupt einen Arzt?
Eine weitere – in meinen Augen wichtigere – Einteilung ist die Einteilung in Primär- Sekundär-, Tertiärversorgung sowie Rehabilitation. Primärversorgung umfasst alle Gesundheitsangebote, die der Patient ohne Umweg direkt in Anspruch nehmen kann. In erster Linie ist hierbei die hausärztliche Versorgung gemeint, aber auch Notfallambulanzen. Prävention und Angebote zur Vorsorge sind ebenfalls der Primärversorgung zugeordnete Angebote, da sie möglichst niederschwellig angelegt sein sollten.
Die Sekundärversorgung umfasst spezialisiertere Gesundheitsleistungen, die in der Regel nur nach Zuweisung durch Primärversorger in Anspruch genommen werden können. Hauptsächlich handelt es sich um fachärztliche Leistungen im ambulanten, aber auch im stationären Setting.
Tertiärversorger sind große, hochspezialisierte Zentren. Wo man die Grenze zwischen Sekundär- und Tertiärversorgung zieht, wird in den jeweiligen nationalen Gesundheitssystemen jeweils etwas anders ausgelegt.
Falls notwendig folgen Angebote zur Rehabilitation auf die akute Versorgung in der Sekundär- und Tertiärversorgung.
Die wohnortnahe Versorgung umfasst den extramuralen Bereich der Primärversorgung sowie die ambulante Sekundärversorgung. Die Idee dahinter ist, die Patientenversorgung immer stärker in den Bereich der Primärversorgung zu verschieben. Hier tut sich ein Dilemma auf: Einerseits sind die Hausärzte überlastet, andererseits sollen sie mehr leisten. Wie lösen andere Länder dieses scheinbare Dilemma?
Die stärkere Einbindung der Gesundheitsberufe in die Primärversorgung als in ihrem Kompetenzbereich eigenverantwortlich tätige Partner der Allgemeinmediziner ist auch ein Schritt hin zur von Seiten der Pflege oft geforderten Wertschätzung.
Der internationale Trend geht dahin, die Primärversorgung interdisziplinär aufzustellen. Es gilt alte Denkmuster zu überwinden und die vielleicht für manche Ärzte unangenehme Frage zu stellen: Braucht es für XY überhaupt einen Arzt? Ich bin davon überzeugt, dass in einem beträchtlichen Anteil der Fälle Patienten sogar besser dran sind, wenn sie nicht von einem Arzt beraten werden, sondern von Fachkräften aus Pflege, Physiotherapie, Diätologie oder Psychologie/Psychotherapie.
So zeigte eine schwedische Untersuchung vor einigen Jahren auf, welche Vorteile es bringt, wenn Patienten mit muskuloskelettalen Beschwerden nicht vom Arzt, sondern vom Physiotherapeuten erstversorgt werden. (https://gupea.ub.gu.se/handle/2077/58503)
Auch in der Versorgung chronischer Erkrankungen profitieren Patienten, wenn sie nach ärztlicher Diagnosestellung und falls nötig pharmakologischer Therapieeinleitung von Pflegekräften weiterbetreut werden, die den Arzt nur dann hinzuziehen, wenn auch eine medizinische Therapieänderung notwendig ist. Diese Betreuungsform läuft über sogenannte Chronikerprogramme (DMP – disease management programm), welche eine interdisziplinäre, patientenzentrierte Betreuung des Patienten vorsehen. Klassische Anwendungsgebiete sind hierbei chronische Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck, chronisches Nierenversagen oder Asthma.
Auf diese Art und Weise erreicht man drei wesentliche Ziele:1. Die Qualität der Patientenbetreuung steigt.
2. Die Kosten der Patientenbetreuung sinken, da eine Stunde einer Pflegekraft das Gesundheitswesen weniger kostet als die Stunde eines Arztes.
3. Die Mediziner werden entlastet und können so unterm Strich mehr Patienten betreuen.
In der modernen arbeitsteiligen Gesellschaft ist Demut ein wichtiger Faktor, wenn man wirklich nach Qualität strebt und derartige Teamarbeit ein absolutes Muss.
Die stärkere Einbindung der Gesundheitsberufe in die Primärversorgung als in ihrem Kompetenzbereich eigenverantwortlich tätige Partner der Allgemeinmediziner ist auch ein Schritt hin zur von Seiten der Pflege oft geforderten Wertschätzung.
Kritiker könnten einwenden, dass es keine Verbesserung sei, wenn man andere Gesundheitsberufe stärker involviert, um Ärzte zu entlasten und zu unterstützen. Oft ist es aber so dass z.B. eine im Wundmanagement ausgebildete Pflegekraft die bessere Entscheidung als der Arzt trifft, wenn es um die Auswahl des geeigneten Verbandes und der geeigneten Verbandsmaterialien beim Verbinden einer chronischen Wunde geht. Die Wahrheit ist auch, dass ein Diätologe einen Diabetiker besser in Sachen Ernährung beraten kann, als es die meisten Ärzte können. In der modernen arbeitsteiligen Gesellschaft ist Demut ein wichtiger Faktor, wenn man wirklich nach Qualität strebt und derartige Teamarbeit ein absolutes Muss. Im Wundmanagement ist die Rolle des Arztes die Diagnostik und die Therapie der die Wunde verursachenden und begünstigenden Faktoren wie Diabetes, Durchblutungsstörungen oder Wundinfektionen, während das Verbinden in Wirklichkeit eine pflegerische Tätigkeit ist. Hier arbeitsteilig vorzugehen wäre also definitiv ein Qualitätssprung.
Daher bin ich der Meinung, dass die Umsetzung von wohnortnaher (Primär-)Versorgung nur funktionieren kann, wenn wir gezielt die Gesundheitsberufe in die Primärversorgung einbinden.
In Österreich erfolgt diese Einbindung u.a. im Rahmen von Primärversorgungseinrichtungen. Eine solche PVE kann in Form eines Zentrums (Ärzte und Gesundheitsberufe in einem Haus) oder in Form eines Primärversorgungsnetzwerkes (Ärzte und Gesundheitsberufe örtlich getrennt, aber in Kooperation) organisiert sein. Das Südtiroler Pendant wird „Gemeinschaftshaus“ genannt, vermutlich angelehnt an das italienische Konzept der „casa della communità“. Dieses Konzept sieht explizit die Einbindung von Gesundheitsberufen vor, wobei hauptsächlich von Pflegekräften die Rede ist.
Video einer Pflegekraft in der wohnortnahen Versorgung
Aktuell sind in Südtirol zehn solcher Gemeinschaftshäuser geplant, nämlich in Naturns, Meran, Bozen, Eppan, Neumarkt, Leifers, Klausen, Brixen, Bruneck und Innichen. In der Anlage eines Dekrets des Gesundheitsministeriums vom Mai 2022 wird beschrieben, welche Mindestangebote ein solches Gemeinschaftshaus gewährleisten muss.
Als Ergänzung darf hierbei die ambulante Sekundärversorgung nicht außer Acht gelassen werden. Auch wenn Allgemeinmediziner und Gesundheitsberufe grob 80% der gesundheitlichen Probleme gemeinsam mit dem Patienten lösen können, gibt es einen großen Bedarf an fachärztlichen Abklärungen. Die langen Wartezeiten auf Fachvisiten bestätigen das. Insbesondere routinemäßige Untersuchungen ohne großen apparativen Aufwand wie beispielsweise Ultraschalluntersuchungen, normale Facharztvisiten, Magen- und Darmspiegelungen bei Patienten mit wenig Risikofaktoren uvm können ohne weiteres ambulant außerhalb des Krankenhauses durchgeführt werden, sodass die Krankenhäuser sich verstärkt auf jene Diagnostik und Therapie konzentrieren können, für die die Infrastruktur eines Krankenhauses wirklich notwendig ist.
Ich denke der neue Landesrat Messner strebt Entwicklungen in eine sinnvolle Richtung an. Gleichzeitig habe ich Bedenken, ob die Umsetzung auch vernünftig funktionieren wird. Ein Plan auf dem Papier ist nichts wert, wenn man dem Personal nicht die Freiheiten und Anreize gibt, ihn auch auf innovative und kreative Art und Weise umzusetzen.
Außerdem sollten wir nicht vergessen, dass wir auch vom von Italien vorgeschlagenen und über den PNRR subventionierten Konzept abweichen können und z.B. auf eigene Kosten ein an die lokalen Gegebenheiten angepasstes Konzept umsetzen können.
Du schreibst "... wenn…
Du schreibst "... wenn Patienten mit muskuloskelettalen Beschwerden nicht vom Arzt, sondern vom Physiotherapeuten erstversorgt werden."
Ich teile diesen Ansatz absolut, aber glaubst du nicht, dass dennoch ein Arzt, diese Entscheidung treffen muss/sollte? Würde sich - wenn man es dem Patienten überlässt - nicht eine ähnliche, teils gefährliche Szenerie ergeben, wie die, wo sich Menschen anhand von Informationen aus dem Internet, selbst eine Diagnose stellen?
In reply to Du schreibst "... wenn… by Manfred Klotz
Ich denke dass…
Ich denke dass sichergestellt werden muss, dass ein Patient mit sogenannten red flags zeitnah medizinisch versorgt werden. Physiotherapeuten "können" bzw. "dürfen" keine Diagnosen stellen, sie sind aber ausgebildet, auf solche red flags zu achten und Patienten mit red flags erst zu behandeln, nachdem sie medizinisch abgeklärt wurden. Man überlässt es also nicht dem Patienten, sondern schaltet der ärztlichen Behandlung sozusagen einen physiotherapeutischen Filter vor. Dadurch wird auch der Fokus hin zur aktiven Bewegungstherapie und weg von einer symptomorientierten Schmerztherapie gelegt.
Wenn man so einen Prozess aufsetzt, kann man aber natürlich darauf achten, dass er so strukturiert ist, dass red flags auch sicher abgefragt werden. Beispiele für solche red flags sind z.B. Krebserkrankungen in der Krankengeschichte des Patienten, Fieber etc. Diese Patienten sollten rasch ärztlich abgeklärt werden.
wow ... 👍
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