Culture | Salto Afternoon

Warum in Visionen denken

Ein Gastbeitrag von Maxi Obexer aus der soeben erschienenen Ausgabe der Zeitschrift Kulturelemente. Die Autorin ist Teilnehmerin des 41. Ingeborg-Bachmann-Preises.
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Foto: Foto: Salto.bz

Seit Jahren nun schon sehen wir anderen dabei zu, wie sie Entscheidungen treffen und handeln: sie gehen, ziehen weg, brechen auf, manche auch nach Europa, mit einer Vision vor Augen, mit der Vor­stellung von einem Leben, einem anderen, einem besseren, oder dem, das sie vorher schon hatten, bevor es ihnen genommen wurde. Mit einem Leben jedenfalls in der Perspektive und dem Anspruch, dass dieses Leben zu verteidigen ist und nicht dem Tod, nicht der Perspektivlosigkeit, nicht dem Krieg, nicht dem Terror zu überlassen ist. Es ist ein Ja für etwas, gefüllt und erfüllt davon, wie es sein und wie es werden wird, wie es zu gestalten und zu führen sein wird. Es ist gefüllt von Vorstellungen, von Gedanken und von Ideen, sicher auch von Furcht und Sorge. Und der Rest liegt in den Sternen.

Wir sehen zu in dieser Zuseher-Optik, mit ver­schränkten Armen und musterndem oder ab­musterndem Blick, mit wenig Bewunderung, wenig Achtung, zu oft von der Loge herab, und tun so, als seien es andere, ganz andere als wir es sind, die da aufbrechen und unterwegs sind.

Der Logenplatz scheint sich wieder mehr denn je zu etablieren und verteidigt zu werden mit Klauen und Zähnen. Ich dachte, mit dem Sommer 2015 sei das vorüber: das Zusehen und das Urteilen und das Bewerten, das Sprechen über sie, über ihre Köpfe hinweg, und das Absprechen dessen, was jeden, der aufbricht und geht, auszeichnet: die Selbster­mächtigung, die Selbstbestimmung.

Wie lange wollen es wir uns leisten so zu tun, als gehe uns das alles nichts an?

Als stünden die Krisen und Kriege in der Welt in keinem Zusammenhang mit uns.

Wo doch fairerweise zu fragen wäre: was hat sich Europa nicht geleistet an Grausamkeit und Kriegen, an Kolonialismus, Rassismus und Chauvinismus, an der Eroberung und Zerstörung der Welten anderer?

Mit dem Sommer 2015 wurde wirklich etwas überwunden, nämlich die Festung, die freiwil­lige Selbstbeschränkung und -einschränkung, als es plötzlich einen Aufbruch von innen her­aus gab. Dem waren die zahllosen Tragödien vorangegangen, mit einer täglich steigenden Anzahl an Todesopfern, mit immer mehr Men­schen, die ertranken, erstickten, und Kindern, die das Meer ans Land spülte. Als wäre ein Sicherheitsventil aufgeplatzt: wir Europäer setzten uns in Bewegung und handelten und kamen den Ankommenden entgegen. „Gut, dachte ich", dann fangen jetzt endlich auch wir Festungsbewohner wieder an, etwas hö­her zu denken und weiter, in Visionen sogar, vielleicht in den Visionen derer, die zu uns kommen. Schließlich haben ja alle in der Welt einen hohen Preis dafür bezahlt, bis es end­lich gelang, dieses Europa zu gründen.

Kaum einen Monat später forderte die öster­reichische Ex-Innenministerin Mikl-Leitner, man müsse eine Festung Europa schaffen, als hätte sie das Wort gerade erst erfunden.

Als sei nicht seit zwei Jahrzehnten dagegen angerannt worden, von innen rhetorisch, von außen, mit Leib und Seele.

Inzwischen hat sich die Welt radikalisiert. Das Sprechen gegen die anderen wird beleidigen­der, abfälliger, erniedrigender, das Weg­schubsen und Wegstoßen wird normal, Hass, Verachtung, Abscheu entladen sich unge­hemmt in den Social oder besser Anti Social Media. Und ich frage mich: „Fällt uns wirklich nichts Besseres ein als die Abwehr, und das üble Gerede über die anderen? Haben wir nichts eigenes? Nichts anderes als die Vertei­digung unserer Rentenversicherung?

Was treibt uns an, was streben wir an? Wel­che Welt stellen wir uns vor?

All die, die dieses Europa aufsuchen, die nach Europa streben, erinnern uns daran, dass zu­mindest die Idee von Europa eine ist, die visi­onär ausgerichtet - und ganz und gar nicht so utopisch war, wie es heute gerne heißt.

Warum nicht realistisch denken

Diese europäische Welt ist inzwischen ideolo­gisch verbarrikadiert – mehr denn je, wir wis­sen es. Gefragt – um den Sprachgebrauch der Rechtspopulisten korrekt zu benennen.

Inzwischen mehren sich die Berichte darüber, wie sehr die Darstellung der Köln-Nacht und den angeblichen massenhaften sexuellen Übergriffen der „Araber" von rechtspopulisti­schen Kräften gesteuert wurde mit dem Ziel, den Kurs von Angela Merkel in der Flüchtlings­frage zu torpedieren. In einem Dossier des Deutschlandfunks etwa mit dem Titel: „The making of Apokalypse 2.0“ lässt der Autor Walter von Rossum auch die Stimmen zu Wort kommen, die ganz anders von dieser Nacht berichten, ja, sogar von großer Acht­samkeit sprechen. Bisher wurden diese Stim­men zur Not mit Morddrohungen zum Schwei­gen gebracht.

Die Köln-Nacht war gerade so durchschla­gend, weil sie keinen Zweifel an der Realität ließ, kaum etwas, das als 'realer' wahrgenom­men wird, als wenn Männer Frauen sexuell angreifen. Wer würde sich hier einen Meta­Text erlauben, der den rassistisch erzeugten Hype, oder das gezielte islamfeindliche Fra­ming von Rechtsextremen dagegen stellt? Welcher Mann? Welche Frau?

David Graeber analysiert in seinem Buch „The utopia of rules“ dt. „Die Regeln der Bürokratie“, dass der Verweis auf „die Realität" und die Aufforderung, jetzt doch mal „realistisch“ zu sein, meist von jenen beansprucht wird, die uns auf Bedrohung und Gewalt hinlenken oder einschwören wollen. Unnötig zu sagen, dass sie uns für eine bestimmte Antwort überzeu­gen wollen: nämlich mit Härte und "wenn nö­tig", mit Gewalt zu reagieren. Wer sagt: sei realistisch, meint: „Siehst du denn nicht die drohende Gefahr? Hör auf zu träumen. Dafür ist jetzt keine Zeit.“ Als wäre für diejenigen, die so hartnäckig an der Realität der Bedrohung arbeiten, diese Zeit jemals vorgesehen.

Wie realistisch also ist diese Realität? Das ist vielleicht eine Frage ihrer Anhängerschaft. Sicher wird sie umso realer, je mehr Leute an sie glauben.

Wir benötigen eine gute Imaginationskraft, um diesen Realitäten zu entkommen, um uns nicht von ihnen einbinden zu lassen. Um un­seren Kopf vor solchen Konzepten zu wapp­nen, die wir nicht denken möchten. Um uns einer Wahrnehmung zu widersetzen, in der solange ein Hass- und Gewaltszenario be­schworen wird, bis es zu dieser Welt gehört.

Wir brauchen eine noch bessere, um ihr et­was entgegenzuhalten.

Wir brauchen handfeste Visionen. Nicht um uns aus dieser Welt zu verabschieden, son­dern um diese hier nicht dem real geworde­nen Stumpfsinn zu überlassen.

Mit der Frage nach „Unseren Utopien" soll es um die Stärkung unserer Imaginationskraft gehen, einer, die den konkreten Realitäten nicht entgegen gesetzt ist, sondern eng mit ihnen verbunden bleibt. Und die doch auch eine Brücke schafft, mit der die Vorstellung von einer Welt, wie sie anders sein kann und auch anders sein muss, erhalten bleibt.

Verbunden mit der ständigen Frage: Wie können wir aufwachen und etwas anderes erzeugen als das, was nicht erzeugt werden soll?

Eine Phantasie, die nichts frei schwebendes bedeutet, sondern ein genaues Aufsuchen und Erforschen jener Wirklichkeiten, die mit Absicht und Kalkül unsichtbar gehalten.