Culture | Bolzano Danza

15 Jahre Sonnenseite

Die Tanzkompanie Gauthier Dance feierte im Stadttheater Bozen ihren 15. Geburtstag - beschenkt wurden dabei die Zuschauer*innen, nämlich mit atemberaubenden Choreografien
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Foto: jeanette bak
“Wir brauchen keine weitere Tanzkompanie in Stuttgart“ – ein Schlag ins Gesicht für Eric Gauthier, damals Balletttänzer und Visionär, der davon träumte, die Spitzenschuhe sowie seinen Platz auf der Bühne anderen zu überlassen und stattdessen Choreografien zu entwickeln. Seine Initiative schien aufgrund mangelnder Finanzierungen noch vor der eigentlichen Umsetzung dem Untergang geweiht, doch während in Frage kommende Sponsoren bezüglich des Projekts keine großartige Hoffnung hegten, gab der Tänzer die seine nicht auf.
Heute, fünfzehn Jahre später, tritt Eric Gauthier wieder regelmäßig auf die Bühne – als stolzer Gründer einer Kompanie, die seinen Namen trägt und bei jeder Veranstaltung aufs Neue beweist, dass eine Grenze nach oben für Kultur und Leidenschaft schlichtweg nicht existiert. Bereits im März dieses Jahres feierte die Kompanie Gauthier Dance in Stuttgart unter dem Titel 15 YEARS ALIVE ihre kreativen Erfolge, am 26. Juli wurde die bunte Tanzaufführung im Stadttheater Bozen wiederholt, das für die Kompanie laut ihrem Vorsitzenden zu einem zweiten Zuhause geworden ist. Kein Wunder, ist man doch seit Gründung der Kompanie regelmäßiger Gast (und Publikumsliebling) bei Bolzano Danza Tanz Bozen.
 
Eric Gauthier
Eric Gauthier: Er hat es geschafft, seinen Traum einer eigenen Tanzkompanie zu verwirklichen (Foto: zeitblatt.com)
 
Wie ein Blumenstrauß für das Geburtstagskind wirkte die Vorstellung, ein handgepflücktes Bouquet aus den schönsten Rosen der Ballettwiese, ein mitreißendes Feuerwerk aus den beeindruckendsten Choreografien der arbeitsreichen letzten fünfzehn Jahre, welches nicht nur für herzhaftes Publikumslachen sorgte, sondern die einen oder anderen Gäste auch ein paar Tränen vergießen ließ. Dabei erweckten sowohl die Vertreter*innen der Hauptkompanie sowie auch die Tänzer*innen der Jugendgruppe Gauthier Dance JUNIORS verschiedenste Rollen zum Leben und präsentierten beeindruckende Choreografien – vom ausdrucksstarken Butterflies don’t understand why flowers don’t fly… bis hin zum herzzerreißenden Les Adieux, ein Stück, welches Eric Gauthier anlässlich einer Solidaritätsgala für die ukrainische Tänzerin Iana Salenko schuf, um die tragische Geschichte zweier Liebender zu erzählen, die zu den Klängen von Metallicas berühmtem Nothing Else Matters eine letzte gemeinsame Nacht verbringen, bevor der Krieg sie für immer trennen wird.
Doch Gauthier Dance wäre nicht Gauthier Dance, wenn eine Vorstellung ohne humorvolle und teilweise auch selbstironisierende Stücke auskommen müsste. So tanzte sich ein Künstler quer durch das ABC, während ein anderer im Rahmen der bewegungsreichen Reflexion über verschiedene Ballettpositionen Ballet 101 körperlich dermaßen herausgefordert wurde, dass am Ende der Vorstellung nicht mehr von ihm übrigblieb als die Einzelteile einer zerfetzten Schaufensterpuppe. Außerdem wurden zwei Kurzfilme präsentiert, Return und Rats, und es war Eric Gauthier ein Anliegen, das Publikum auf die „sonnige Seite des zeitgenössischen Tanzes“ zu entführen, ein Unterfangen, das ihm zweifellos gelungen ist, zumal selbst in der Zwischenpause für tänzerische Unterhaltung gesorgt war, die anschließend nahtlos in das atemberaubende Stück Minus 16 überging.
„Die Illusion von Schönheit und der schmale Grat zwischen Wahnsinn und Vernunft, die Panik hinter einem Lachen und die Koexistenz von Erschöpfung und Eleganz“. Mit dem Widerhall dieser Worte gab der Bühnenvorhang den Blick frei auf einen Stuhlhalbkreis aus Tänzer*innen, allesamt in schwarze Anzüge gehüllt, deren akrobatische Tanzbewegungen im Laufe des Stückes immer schneller und komplexer wurden. Besonders auffallend war hierbei ein Tänzer, der am äußeren rechten Rand des Stuhlkreises saß; die Anstrengung, die ihn die synchronen Schritte zu kosten schienen, wurde im Stück in regelmäßigen Unterbrechungen deutlich, nämlich als sich alle Künstler*innen in einer dynamischen Ola nacheinander einarmig auf ihren Stühlen aufstemmten – die Kraft, welche dabei durch die Tänzer*innenreihe strahlte, schleuderte das schwache letzte Glied der Kette immer wieder zu Boden, wo der Tänzer eine Weile erschöpft liegenblieb, bevor er sich aufrappelte, um die anstehende Bewegungsabfolge nicht zu verpassen.
 
Gauthier Dance Minus 16
Synchrone Bewegungsabfolgen: Im Stück "Minus 16" tanzt nur einer aus der Reihe (Foto: www.theaterhaus.com)
 
Die Choreografie kann als eine Metapher für unsere schnelllebige Gesellschaft gedeutet werden: Der Künstler ganz rechts tanzte aus der Reihe, und obwohl er sichtlich darum kämpfte, sich seinen Kolleg*innen anzupassen, blieb deren Standhaftigkeit gegenüber der Energiewoge für ihn nur ein Wunschtraum. Das schwarze Schaf konnte dem Leistungs- und Homologierungsdruck der Gesellschaft unmöglich standhalten und trotzdem klammerte es sich verzweifelt an dieses unmöglich erreichbare Ideal, weigerte sich, einen persönlichen Weg einzuschlagen und seine Einzigartigkeit fernab von den Erwartungen der Gruppe zu zelebrieren, sondern wollte diesen um jeden Preis gerecht werden. Der Mann war ausgegrenzt, stellte nur ein Anhängsel der Gemeinschaft dar und keinen fundamentalen Bestandteil, er wirkte beinahe verrückt.
Doch wandelte sich dieses Verhältnis zwischen offenbarem Wahnsinn und Vernunft abrupt, als der gesamte Sitzkreis begann, sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit die eigene Kleidung vom Leib zu reißen. Jacken wurden blitzschnell ausgezogen, Hemden fielen, Schuhe regneten auf den Bühnenboden, auf dem sich in der Mitte ein riesiger Kleiderhaufen ansammelte. Nur der Tänzer ganz rechts behielt seine Kleidung an: Er war zu langsam, sich auszuziehen, und musste eher darauf achten, stets dem Rhythmus der restlichen Tanzschritte zu folgen. Schlussendlich war er der einzige noch bekleidete Künstler und reflektierte somit nicht nur seine unerschütterliche Beständigkeit, sondern auch die Tatsache, dass er mutmaßlich aus seiner blinden Homologierungstrance erwacht ist, die kollektiven Handlungen besser zu hinterfragen gelernt und den Mut gefunden hat, sich davon abzugrenzen. Tatsächlich blieb er als einziger gelassen auf seinem Stuhl sitzen, als der Rest der Tänzer*innengruppe sich wie besessen auf den Kleiderhaufen stürzte, um die eigenen Sachen hektisch wieder aufzusammeln.
 
Gauthier Dance Schuhszene
Zwischen Wahnsinn und Vernunft: Plötzlich ziehen sich alle Tänzer*innen die Kleidung aus (Foto: www.theaterhaus.com)
 
Nach einer kurzen, vom Ticken einer Uhr (oder einer Zeitbombe?) begleiteten Sequenz, in welcher identisch gekleidete Männer tanzend aufzeigten, dass sie in der Produktivgesellschaft oft lediglich als unbelebte, austauschbare Glieder wahrgenommen werden, änderte sich die Klangfarbe des Stückes erneut schlagartig: Plötzlich tauchten wieder Tänzer*innen im schwarzen Anzug auf und begaben sich auf eine Zuschauerjagd in die Publikumsreihen, von der sie mit mehr oder minder tanzbegeisterten Damen und Herren auf die Bühne zurückkehrten. Von da an verschmolz 15 YEARS ALIVE zu einem interaktiven Tanzensemble, einem sich gemächlich drehenden Kaleidoskop aus chromatischen Nuancen, verschiedenen Gefühlsregungen ob der überraschenden Bühnenpräsenz im warmen Scheinwerferlicht und unter den lachfaltenumzogenen Augen des übrigen Publikums sowie bunt zusammengewürfelten Persönlichkeiten, die nichts weiter verband als die Freude, diesen Moment zu erleben
Wie gewohnt, konnte Eric Gauthier mit seinen einfallsreichen Choreografien und talentierten Tänzer*innen auch heuer Bozens Kulturwelt begeistern. Diese verließ das Stadttheater mit der Hoffnung auf ein Wiedersehen und auf einen nächsten Geburtstagsauftritt – vielleicht in weiteren fünfzehn Jahren – der Tanzkompanie aus Stuttgart.