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Der versiegte Migrantenstrom

Der Migrantenstrom ist stark rückläufig. Die Beziehungen zwischen Rom und Tripolis werden intensiviert – ein Verdienst von Innenminister Minniti.
Migranti
Foto: upi

Es war eine bisher kaum vorstellbare Begegnung. In Tripolis trafen sich vor wenigen Tagen Italiens Antimafia-Staatsanwalt Franco Roberti und der libysche Oberstaatsanwalt Sadik Al Sour. Beide vereinbarten eine enge Zusammenarbeit. Libyen will Italien Rechtshilfe bei den Ermittlungen gegen kriminelle Schleuser gewähren. Gleichzeitig trafen sich Spitzenvertreter der libyschen und italienischen Polizei. Dabei sicherten die Gäste Tripolis Unterstützung bei der Ausbildung der libyschen Polizei und der Verbrechensbekämpfung zu. Das Tauwetter zwischen Rom und Tripolis scheint voll im Gang. Italien ist sich dabei durchaus der schwierigen Gratwanderung bewusst: Gesten der Wiedergutmachung für die Greuel der Kolonialzeit stehen an. Protagonist dieser erstaunlichen Annäherung ist Italiens Innenminister Marco Minniti.

Der 60-jährige Kalabrese verkörpert zuallererst eine Haltung: er zeigt sich als treuer Diener des Staates. Das ist bei Minniti ein Stück Familientradition. Sein Vater war General, seine Brüder und sein Onkel hohe Offiziere. Er selbst war ein enger Freund des 2005 im Irak erschossenen Geheimdiestchefs Nicola Calipari. Als Staatssekretär leitete er in mehreren Regierungen den Geheimdienstausschuss des Parlaments. Als lord of the spies zelebrierte ihn die New York Times einem ausführlichen Porträt. Eigentlich wollte Minniti Pilot werden. Doch dann studierte er Philosophie und schloss sein Studium mit einer Dissertation über Cicero ab. Der Innenminister, der eigentlich Domenico heisst und den Namen seines früh verstorbenen Bruders übernommen hat, verabscheut das in Italien gängige politische Bla Bla. Er gilt als verlässlich und reserviert – und als Arbeitstier.

Polemiken löste  er letzthin mit seiner Befürchtung aus, der Migrantenstrom könne "zur  Gefährdung unseres demokratischen Systems führen".

Zu dieser dramatischen Einsicht sei er am 29. Juni gekommen, als an einem einzigen Tag 12.500 Migranten auf 25 Schiffen in Süditalien landeten. Auf Dienstreise nach Washington ersuchte der Minister im irischen Luftraum den Piloten, nach Rom zurückzukehren.

Minniti  ist ständig darauf bedacht,  das Netz der Beziehungen zu Libyen zu erweitern. Die Kooperation mit der dortigen Küstenwache wurde verstärkt, Italien lieferte Fregatten und Radargeräte und übernahm die Ausbildung libyscher Kadetten. Nachdem er die Vertreter der Beduinenstämme aus dem Süden des Landes empfangen hatte, lud Minniti letzthin die Bürgermeister von 14 Küstenstädten wie Misurata, Sabratha, Zuwara und Sebha nach Rom und bot ihnen konkrete Zusammenarbeit an. Jede Stadt konnte als dringlich empfundene, zivile Projekte vorlegen – von der Wasserleitung über den Ausbau des Stromnetzes bis zur Kläranlage und zur medizinischen Versorgung. Diese Projekte sollen in einem dreijährigen Programm von der EU mit 100 Millione Euro pro Jahr finanziert werden. Als besonderen Erfolg wertete Minniti die Tatsache, dass auch Sabratha mit dabei war, das bisher jede internationale Kooperation abgelehnt hatte. Die 100.000 Einwohner-Stadt mit ihren berühmten altrömischen Ausgrabungsstätten wurde von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt und war bis zum Sturz Gaddafis Ziel zahlreicher Besucher.
Italien hat als einziges westliches Land seine Vertretung in Tripolis wieder eröffnet und mit Giuseppe Penone einen fähigen Botschafter dorthin entsandt. Der 49-jährige war im Aussenministerium als Direktor für die Mittelmeerstaaten und die Länder des Nahen Ostens zuständig. Rom unterstützt die international anerkannte Regierung unter Fayez al Sarradsch in vielen Belangen - auch wenn sie nur einen kleinen Teil des zerrissenen Landes kontrolliert. 
Unklar bleibt, wie der bedrohlich anschwellende Flüchtlingsstrom so plötzlich abebben konnte. Im August wurden "nur" 2800 Migranten registriert – fast ein Zehntel des Vorjahres. Nach einer Reuters-Meldung waren es die Brigaden von Sabratha, die den Umtrieben der kriminellen Schleuser ein Ende bereiteten. Gerüchte, dass sie dafür von Rom bezahlt wurden, bleiben unbewiesen. Die Vermutung liegt nahe, dass ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren zur Eindämmung des Flüchtlingsstroms führte: die wachsende Effizienz der libyschen Küstenwache, der den NGO-Schiffen von Rom  auferlegte Verhaltenskodex und das Bestreben der libyschen Regierung, den belastenden Migrantenstrom zu stoppen. Ob die mit den Nachbarländern Niger, Tschad und Mali vereinbarten Massnahmen ebenfalls bereits greifen, ist noch unklar. Beim jüngsten Treffen in Tripolis hat Italien auch das Problem der Lager angesprochen, in denen die Migranten unter menschenunwürdigen Bedingungen gehalten werden und Libyen ersucht, einer UNO-Vertretung Zugang zu gewähren. Tripolis will, dass diese Migranten in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Der Strom Ausreisewilliger nach Libyen ist indessen stark abgeflaut. Offenbar hat sich durchgesprochen, dass es sich um eine Fahrt mit hohem Risiko und sinkenden Chancen handelt.
Einem Mann mit langer Geheimdienst-Erfahrung wie Minniti, der schon im Kosovo mit dabei war, kommt die Lage in Libyen durchaus entgegen. Dort kann er sein Verhandlungsgeschick auf allen Ebenen beweisen: mit Regierungsvertretern, Beduinen, Bürgermeistern und Stammesältesten – vom Maghreb bis hinunter in die Sahelzone.
 

Neue Flüchtlingsroute über das Schwarze Meer ?

Wird eine Flüchtlingsroute geschlossen, entsteht sofort eine neue - diesmal über das Schwarze Meer – vom türkischen Fischereihafen Cidi in die rumänische Urlaubsregion von Mangalia und Constanza. Bei den Flüchtlingen handelt es sich vorwiegend um Iraker, Syrer, Pakistaner und  Bengalen. 2600 Migranten wurden bereits aufgegriffen, 7 Schleuser verhaftet. Das Risiko ist freilich ungleich höher als im Mittelmeer. Das Schwarze Meer ist gefährlicher, die Überfahrt dauert zwei Tage.

Unterdessen weist Minniti die Vorwürfe zurück, die Rechte der Flüchtlinge verletzt zu haben: "Esistono i diritti di chi è accolto, ma anche quelli di chi accoglie”. Bereits für die kommenden Wochen kündigt der umtriebige Minister einen piano di accoglienza nazionale an. Es handle sich um ein vordringliches Anliegen, um einer Radikalisierung der Migranten vorzubeugen: "Non c’è un legame tra terrorismo e immigrazione, ma tra terrorismo e mancata integrazione."