Stage | Teatro stabile

Perfekter Verrat

“È come se le persone in sala fossero a tavola con i sette protagonisti.”, beschreibt Paolo Genovese seine erste Theaterregie, „perfetti sconosciuti“. Wie schmeckt’s? Auch ohne ein Abendessen hat ein kritischer Betrachter an dem Stück zu knabbern.
Perfetti sconosciuti
Foto: TSB
  • Der obige Satz aus der Werbung – dass der Abend so sei, als wäre man zu Tisch mit den Protagonisten – stimmt. Die Aussage ist ihrerseits aus einem Gespräch der Repubblica-Journalistin und Theaterkritikerin Sara Chiappori, die das Stück in leicht anderer Besetzung gesehen hat als das Bozner Publikum. Hier schlüpfen Dino Abbrescia, Alice Bertini, Marco Bonini, Paolo Calabresi, Massimo De Lorenzo und Lorenza Indovina sowie Valeria Solarino in die Rolle von sieben Freunden, die die eigenen Geheimnisse unterschätzen und ihre Freundschaft überschätzen. Zu essen gab es für die Schauspieler auf der Bozner Bühne auch nichts, aber wer sieht schon gerne Fremden beim Essen zu?

    Nicht an jedem Freundesstammtisch sitzt man aber gern. Treffpunkt der Gruppe und einziger Schau(spiel)platz ist ein Wohnzimmer, eine etwas enge, mit wenig Rückzugs- und keinen Fluchtmöglichkeiten ausgestattete Bühnenrealität. Man denke dabei an das Setting von Yasmina Rezas „Gott des Gemetzels“ („Le Dieu du carnage“), welches mit Roman Polańskis starbesetztem 2011er Film den umgekehrten Weg von der Bühne auf die Leinwand genommen hat. Wir erinnern uns an den großen Erfolg, den „perfetti sconosciuti“ von Paolo Genovese 2016 vor der Stückfassung bereits im Kino eingespielt hatte. Sie hat in der Folge als meistadaptierter italienischer Film auch noch eine Weltreise angetreten. Dass Kammerspiele im Theater wie auch vor der Kamera funktionieren, ist keine große Erkenntnis, der Vergleich lohnt sich allerdings doch. Entgegen dem Titel ist die Ausgangssituation bei Genovese genau dadurch eine andere, dass hier nicht zwei Ehepaare aufeinandertreffen, die einander noch nicht kennen, sondern dass die sieben Freunde einander „gut“ kennen.

    Was heißt es aber sich nur „gut“ zu kennen? Ein Bluff, natürlich der von Eva, führt dazu, dass von den verbotenen Früchten des Baums der Erkenntnis genascht wird. Auf ihren Antrieb hin gehen alle für die Dauer des Abends all in. Während sich draußen der Schatten der Erde daran macht, den Mond zu verschleiern, wird drinnen auf maximale Transparenz gesetzt. Alle Smartphones kommen auf den Tisch, der Inhalt von Textnachrichten und Anrufen wird von allen gehört. Drei Paare und der schon allein dadurch, dass seine Partnerin „Lucilla“ nicht erscheint als anders markierte Peppe lernen hauptsächlich von ihren Affären sowie von empfundener Untreue und ein jedes Geheimnis hat so seine Eigenheiten.

    Es wird, anders als beim „Gott des Gemetzels“, differenziert mit den Informationen umgegangen, die über die daueraktiven Smartphones eintrudeln. Der Fall von Eva und Rocco, der „hinter ihrem Rücken“ psychologische Sitzungen besucht, obschon Roccos Partnerin selbst Psychologin ist, zeigt eine Diskrepanz. Auf der Bühne und wohl auch im Publikum dürfte gerade anlässlich des Stückinhalts viel Verständnis dafür herrschen. Für Eva wiegt es schwerer als die physische Affäre, in der sie selbst ist. Am Ende ist ein Verrat immer „persönlich“, außer vielleicht in einem Fall.

  • Perfetti sconosciuti: Anders als im Film wird auf der Bühne nicht gegessen. Um die Wohnzimmercouch mit den Handys herum dürfte aber ohnehin den meisten in ihrer Rolle der Appetit vergehen. Foto: Trailer Film Youtube

    Hier geht es dann nicht mehr um einzelne Personen und ihre Verhältnisse, sondern um eine einzelne Person und die umliegende Gruppe. Nach einem Telefontausch dank gleichem Modell zwischen Peppe und Lele, der zur Mitternacht mit erotischen Bildern zu rechnen hat, die er vor seiner Frau Carlotta verheimlichen möchte, folgt der Zuseher dem Stück mit dramatischer Ironie. So gesehen kann es auch etwas von einem angespannten Familienessen haben, bei dem auch mehr im Raum steht, als ausgesprochen wird. Man weiß also besser als zumindest fünf von sieben Personen im Stück Bescheid: Lele hat eine Affäre mit einer Frau und nicht mit einem Mann und dem mysteriösen Lucio – bei dem anfänglich niemand eine Verbindung zur abwesenden Lucilla herstellt – fehlen die Küsse Peppes nicht Leles.

    Während große Teile des Publikums herzhaft über die fehlgeleitete Homophobie auf der Bühne lachen, geht es mir auf meinem Platz mehr wie Peppe. Ich werde ruhig und grüblerisch. Cosimo, der aus der Gruppe am längsten mit Lele befreundet war, fühlt sich gekränkt dadurch, dass ihm sein „bester“ Freund seine Homosexualität nicht gestanden hat. Warum glaubt er, ein Anrecht auf dieses Wissen zu haben und dass die vermeintliche Homosexualität dazu führt, dass er gemeinsame Erinnerungen neu einordnen muss?

    Niemand „schuldet“ Menschen, mit denen er keine Beziehung führt irgendwelche Form von Comming Out (autonom und proaktiv) und niemand verdient sich ein Outing (ungebeten und durch dritte). Ein wenig erinnert es an den oft fehlgeleiteten Hunger gerade junger Fans nach Repräsentanz ihrer eigenen sexuellen Orientierung und Gender-Identität nicht nur im Film und im Theater, sondern auch im echten Leben. Das Outing von Kit Connor, einem der beiden männlichen Hauptdarsteller der Netflix Serie „Heartstopper“ ist ein Beispiel für solch einen Erwartungsdruck von außen: Der 2022 gerade mal 18-jährige Schauspieler sah sich online gezwungen, nach vorne zu flüchten, als sich online die Vorwürfe von sogenanntem „Queerbaiting“ häuften.

    Gut, die Theaterbühne schafft nicht so viel Druck für eine Verschränkung von persönlicher Identität und Rolle wie Fankreise einer dezidiert fürs LGBTQIA-Publikum ausgelegten Serie. Sollte sie auch nicht. Sollten wir alle nicht. Unter Druck stehen queere Menschen in Südtirol ohnehin, da braucht es keinen weiteren von außen.

    Peppe geht schließlich in die Offensive und löst den Schwindel um die vertauschten Handys auf. Als ein Teil des Freundeskreises dann doch noch seine beiläufigen Gehässigkeiten zurücknehmen möchte, ist Peppe dafür wenig empfänglich. Wen wundert’s? Mit den Freunden, die ihn verraten haben, braucht er keine Feinde mehr und als einziger auf der Bühne hat er sich nichts zuschulden kommen lassen. Privat oder öffentlich ist Peppes Beziehung die einzige, die regulär und nicht durch Untreue geprägt ist. Man kann das Theaterpublikum fürs Hinterfragen oder Ablegen der eigenen Doppelmoral nur zum Wasser führen, nicht aber zum Trinken zwingen. Das gelingt auf der Stadttheaterbühne jedenfalls schon mal gut. Im Nachhinein würde mich persönlich wundern, wie viele, die über den falschen „frocio“ auf der Bühne gelacht haben, am Ende des Abends in sich gegangen sind, um sich selbst zu hinterfragen. Das Lachen kam allzu leicht über die Lippen, als dass es noch irgendwo stecken bleiben könnte.

    Am Ende dreht Paolo Genoveses Stück die Uhr zurück und fragt sich, ob die Paare nicht glücklicher wären, wenn bestimmte Dinge nicht ans Licht kommen würden. Das Spiel geht auf Anfang, das Kartenhaus ist wieder intakt und die Blackboxen Smartphone bleiben aufs erste geschlossen. Bis sie sich ein weiteres mal öffnen oder von außen geöffnet werden.

    Eva bekommt von Rocco ein Kompliment für die Ohrringe, die Cosimo ihr geschenkt hat. Manchmal ist es besser, nichts zu sagen und manchmal geht auch das nicht.