Culture | Editorial

Schicht um Schicht

Zum Verhältnis von Kunst und Geschichte

„Erinnerungsarbeit besteht in dem unendlich schwierigen Versuch, zu wissen, zu imaginieren und Erfahrungen Sinn abzugewinnen, die man selbst nicht gemacht hat.“ James E. Young

Nichts scheint unveränderlicher als die Vergangenheit und doch sind Geschichte und Erinnerung ein umkämpftes Feld, auf dem sich ständig neue, konkurrierende Erzählungen positionieren und Bedeutungen ausgehandelt werden. In diesen Aushandlungsprozess greift manchmal auch die Kunst ein.

Längst ist der Historismus - also die Annahme, dass sich das Subjekt über den Strom der Zeit erheben und von einer Position oberhalb dieses Flusses wiedergebend könnte, was es unten beobachtet - überwunden. Mitgerissen vom Zeitstrom wird die Geschichte von der Gegenwart aus gemacht. Nur was eine Gestalt, eine Sprache erhält, wird zu Geschichte. Die sogenannten Fakten unterliegen der Ordnungsmacht von Historiker_innen, die sie im Erzählvorgang auswählen und sie als Gegenstand der Geschichte erst konstituieren – ihnen also Bedeutung beimessen. Dieser konstruktivistische Ansatz will der historischen Realität abtrotzen, was von ihr zu erkennen möglich ist. Hans J. Goertz schreibt: „Aus dem Gegenstand, dem der Historiker gegenüberstand, wurde eine Beziehung, die der Historiker zur Vergangenheit sucht. Fortan werden alle Aussagen über Vergangenes zu Aussagen über die Beziehung zu Vergangenem, aber nicht über die Vergangenheit selbst.“

Geschichtspolitik ist allgemein als (diskursives, institutionelles und/oder aktivistisches) Eingreifen in die Prozesse der Konstituierung kollektiver Vergangenheit zu verstehen. Ähnlich wie Historiker_innen, die eine Synthese aus zufällig oder bewusst überlieferten Dokumenten bilden, entwickeln auch Künstler_innen historische Erzählungen. Kunst fungiert auf diese Weise als erinnerungspolitisches Medium. Dabei sind Künstler_innen  oft weniger an einer verbindlichen Erzählung interessiert, wie sie als vornehmliches Ziel vieler Historiker_innen firmiert, als an deren Unterminierung. Vielmehr als sich auf die Vergangenheit als solche zu beziehen, richten sie sich eher darauf ideologische Gewissheiten der Gegenwart über die Vergangenheit zu dekonstruieren. In der Kunst wird Geschichte auch als Zeithorizont verstanden, in den es zu intervenieren gilt. Die Frage welche Vergangenheit als die eigene anerkennt wird – sei es in persönlicher oder kollektiver Hinsicht – spielt dabei eine wichtige Rolle.

Zwei Beispiele:

Die Künstlerin Aleksandra Domanović, geb. 1981 in Novi Sad, zeigt in ihrem Video Turbo Sculpture (2010-2013) Skulpturen im öffentlichen Raum ehemaliger jugoslawischer Staaten. Analog zum sogenannten Turbo Folk kreierte Domanović die Bezeichnung Turbo Skulptur zur Beschreibung von Monumenten westlicher Popikonen die als realistische Statuen in verschiedenen Städten Mazedoniens, Serbiens, Kroatiens, oder auch im Kosovo aus dem Boden sprießen. Das Phänomen der lebensgroßen aus Stein gehauenen oder in Bronze gegossenen Rocky Balboas, Johnny Depps oder Bob Marleys führt die Künstlerin auf die jüngste Geschichte zurück: das Versagen der lokalen Politiker_innen und der Mangel an Errungenschaften und Werten, an die erinnert und auf die aufgebaut werden könnte. Die Figuren liefern alternative Identifikationsvorlagen. So auch Bruce Lee, der in Mostar (Bosnien – Herzegowina) nun seine Nunchacku für die Einheit und die Verständigung der verschiedenen ethnischen Gruppen schwingt.

Im Essayfilm Journal No. 1 – An Artist's Impression (2007) der Künstlerin Hito Steyerl begegnet uns ein Flickwerk kultureller, nationaler und universaler visueller Erinnerungen. Journal No. 1 lautete der Titel der ersten bosnischen Filmmonatsschau aus dem Jahr 1947, die um 1993 während des Krieges zerstört wurde. Anhand von Filmtrümmern und Augenzeugenaussagen versucht die Künstlerin herauszufinden, was auf dem Nitrofilm aus dem Sutjeska-Studio von Sarajewo zu sehen war. Dabei geht es ihr um eine grundsätzliche Reflexion des Status des historischen Dokuments, sowie um die Rolle des Zeugens in der Geschichtsschreibung.

Was als Kunst gilt und was nicht, ist selbst historisch bedingt. Erst die Geschichte macht die Kunst zu dem was sie ist. Umgekehrt verändern künstlerische Arbeiten unsere Geschichtsbilder. Die Kunst kann der Erinnerung als Auslöserin dienen - als Stütze, Vehikel oder gar als Therapeutin. In welchem Maße und auf welche Weise sie das tut, werden wir in den nächsten Wochen anhand aktueller Bezüge zu beschreiben versuchen.