Society | Migrations-Tagung
Fremd als Fremdwort
Foto: Caritas
Der alte legendäre Bürgermeister von Franzensfeste, Oddo Bronzo, hatte das Dorf in einem Aufsatz für den Alto Adige als zwar kein schönes, aber lebenswertes Dorf beschrieben. Hier ist jeder fremd oder niemand, niemand einheimisch oder jeder. Gaben für den Bürgermeister der „guten alten Zeit“ die zuwandernden Eisenbahner-, Beamten-, Finanzer-, Arbeiter- und Dienstleisterfamilien dem Dorf ihre Vitalität, sind es für den Bürgermeister der Gegenwart, Thomas Klapfer, die Migrantinnen und Migranten aus mittlerweile 27 Nationen. Sie machen – bei rund 1.000 Einwohnern 2016 – 25 Prozent der Ortsansässigen aus.
Werden jene dazugezählt, die mittlerweile kontinuierlich als neue Staatsbürgerinnen und Staatsbürger vereidigt werden können, weil sie seit 10 Jahren ansässig sind, sind es noch einige mehr. Ein bis zwei neue Staatsbürgerschaften verleiht der Bürgermeister im Monat.
„Für mich sind das alles Fortezzini, das war früher auch so, ob deutsch oder italienisch, ich bin so aufgewachsen, wir haben nie einen Unterschied gemacht. Warum sollen wir das jetzt tun? Wenn jemand sagt, das sind keine richtigen Franzensfester, weil sie erst kurzem da sind, da antworte ich: Wo willst du die Grenze ziehen? Deine Familie ist seit 40 Jahren hier, meine seit 100 Jahren – soll ich dann sagen, ich bin ein richtiger Fortezzino und du nicht?“
Die Frage, wer einheimisch ist und wer nicht, lässt sich dennoch schwer vermeiden. Übliche Ordnungen sind in Franzensfeste zwar gebrochen, damit aber nicht außer Kraft gesetzt. Das Dorf, das nie eine Schützenkompanie hatte und dessen einzige Musikkapelle zur Zeit des Faschismus eine italienische war, widerspiegelt dennoch in vielem die ethnischen Teilungsstrukturen der Südtiroler Gesellschaft: „Wir haben vieles doppelt, wie überall in Südtirol“, zählt der Bürgermeiste auf, „italienischen Acli, deutschen KVW, italienischen Club Anziani, deutschen Seniorenclub, die deutsche Feuerwehr in Mittewald, die italienische Feuerwehr in Franzensfeste“.
Selbst grundsätzlich offene Einrichtungen und Vereine wie das Jugendzentrum oder der Chor werden in der Regel von einer Sprachgruppe dominiert, während die anderen wegbleiben: „Wenn es hier einen Verein gibt, wird etwas strikt von den Italienern übernommen oder von den Deutschen.“ Soziale und öffentliche Räume, in denen die Begegnung nicht primär auf das Sprachliche angewiesen ist, sind eine Voraussetzung für integrative Prozesse – gerade die Bars und Gasthäuser sind vor allem für die muslimische Bevölkerung aber kein Ort der Anziehung. Zugleich sieht der Bürgermeister darin auch keine Gefahr. Die Herkunft der 250 Migrantinnen und Migranten aus 27 Ländern erschwert einerseits die Bildung größerer Gemeinschaften zugunsten des Rückzugs ins Private, verhindert damit auch eine Ghettoisierung in Parallelwelten.
„Hier ist jeder fremd oder niemand, niemand einheimisch oder jeder.“
Bürgermeister Thomas Klapfer
Übertönt vom Getöse um das österreichische Grenzmanagement zur Kontrolle und Abwehr der Flüchtlingsbewegungen, verdankt sich auch am Brenner die demographische Belebung des beinahe schon sterbenden Dorfes den Familien migrantischer Herkunft. Die Gründe, sich im Grenzdorf anzusiedeln, sind ähnlich wie in Franzensfeste: Einigermaßen, wenn auch nicht immer preisgünstige, aber jedenfalls frei gewordene Wohnungen, Züge zum Arbeitsplatz, leerstehende Strukturen, die den Migrantinnen und Migranten ihr Weiterexistieren verdanken, etwa der italienische Kindergarten. Anders als in Franzensfeste bilden Zugewanderte aus Pakistan am Brenner eine beachtliche Gemeinschaft, „mit Abstand die größte“, so Bürgermeister Franz Kompatscher. Die Jugendgruppe besteht fast ausschließlich aus pakistanischen Jugendlichen, die Frauen hat man über eine Nähwerkstatt zu erreichen versucht, ansonsten aber bietet das dürftige Sozial- und Vereinsleben am Brenner wenig Anknüpfungsmöglichkeiten. Der Bürgermeister erkennt – wie sein Kollege Franzensfeste – im Sport eine der wenigen Chancen, „das funktioniert am besten, da werden wir etwas auf die Beine bringen müssen“.
Der Ort, der 2016 europaweit zum Brennpunkt für die politisch hochgespielte Flüchtlingskrise wurde, ist auf unspektakuläre Weise durch die Präsenz migrantischer Familien geprägt: „Das Zusammenleben ist in Ordnung, einmal hat es Ärger gegeben, weil die Kinder einer Ausländerfamilie lange wachbleiben durften und sehr laut waren, da habe ich halt mit den Leuten geredet, dann haben sie es verstanden.“ Der Verein Volontarius betreut mitten im Dorf die täglich – seit 2016 meist in kleinen Gruppen – ankommenden Flüchtlingen, ohne dass es größere Schwierigkeiten gegeben hätte. Der Grenzort, dessen Gemeindesitz in dem von Migration und Flüchtlingsbewegung nur marginal betroffenen Gossensaß liegt, ist erneut davon abhängig, wie die größere Politik um ihn würfelt.
Eine besondere Situation stellt die Schule, in Südtirol einerseits nach Sprachgruppen getrennt, andererseits aufgrund des Elternrechts auf freie Schuleinschreibung für alle offen, die da sind. Die Grundschule in Franzensfeste ist in einem kleinen Gebäude nahe der Gemeinde untergebracht, jene für die deutsche Sprachgruppe im Parterre, jene für die italienische im einzigen Stockwerk darüber. Die Zahl der eingeschriebenen Kinder erlaubte in der deutschen Schule im Schuljahr 2014/2015 die Einteilung von zwei jahrgangsübergreifende Klassen, eine für die Erst- und Zweitklässler, eine weitere für die älteren Kinder. In der italienischen Schule reichte die Kinderzahl gerade mal für eine Klasse über alle fünf Jahrgänge hing. In der ersten und zweiten Klasse der deutschen Schule waren alle Kinder ausländischer Herkunft, in der italienischen Schule ebenso.
Kaum sonst irgendwo steht die Trennung der Südtiroler Schule nach Sprachgruppen derart auf dem Prüfstein wie hier. Sowohl in Franzensfeste als auch am Brenner mit einer ähnlichen Zusammensetzung der Schulkinder sprechen sich die Bürgermeister für gemeinsame Kindergärten und gemeinsame Schulen aus. Erst im Schuljahr 2014/2015 sahen sich die Lehrkräfte der beiden getrennten Kleinschulen zu ebener Erde und im ersten Stock ermutigt, wenigstens die Pause zur gleichen Zeit stattfinden zu lassen.
Werden die wenigen Kinder so vieler Herkünfte auch noch auf zwei Schulsysteme aufgeteilt, kann sich schwerlich eine sinnvolle Klassenbildung und Lerndynamik ergeben. Dazu kommt, dass Kinder deutsch- oder italienischsprachiger Eltern ihre Kinder in die Schulen der umliegenden Ortschaften bringen, wo die Migrationsdichte geringer ist. Sich damit selbst überlassen und in zwei Schulsysteme dividiert, drohen die Kindergärten und Schulen am Brenner und in Franzensfeste zu Problemfeldern zu werden, in der die Lehrkräfte überfordert sind und Schülerinnen und Schüler um wichtige Bildungschancen gebracht werden. Zugleich liegt hier hohes Potenzial brach, um neue Wege zu gehen. Gerade die Mehrsprachigkeitskompetenz, die in so heterogenen Klassensituationen gegeben ist, ist eine Ressource, die von der internationalen Mehrsprachigkeitsforschung erkannt, in nationalstaatlich geprägten Gesellschaften mit der Vorstellung einer einzigen dominanten und perfekt zu beherrschenden Sprache aber noch völlig verkannt ist.
„Wir brauchen neue Modelle, so wie man früher gedacht hat, geht es nicht, selbst wenn man es wollte.“
Bürgermeister Franz Kompatscher
Brenner und Franzensfeste stellen auf vielschichtige und unterschiedliche Weise Brennpunkte der Migrationsgesellschaft dar. „Wir brauchen neue Modelle“, ist die schlichte Erkenntnis des Bürgermeisters vom Brenner, „so wie man früher gedacht hat, geht es nicht, selbst wenn man es wollte.“ In seiner Jugend nahm die Feuerwehr noch keine Gemischtsprachigen auf, wie Kinder von Eltern unterschiedlicher Erstsprache genannt wurden, und zwar nicht einmal dann, wenn die vorherrschende Familiensprache Deutsch war. Es genügte ein Elternteil der italienischen Sprachgruppe, um die Aufnahme eines sprachlich deutsch sozialisierten Jugendlichen zu vereiteln – ein unverhohlener, aber kaum bewusster Rassismus, der sich in den lange Zeit berechtigten Kampf der deutschsprachigen Südtiroler Minderheit eingeschlichen hatte. Beide Orte verdanken ihre Existenz der Migration nicht erst jetzt, sondern seit jeher, wohl aber auch in Zukunft. „Ja, und warum nicht eine Multikulti-Küche im Dopolavoro“, sinniert Bürgermeister Klapfer. Die Migration, die den Ort in herkömmlichen Vorstellungen zum Un-Ort macht, ist seine eigentliche Zukunftsressource.
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