Economy | Arbeitsmarkt

„Ein Sturm im Wasserglas“

Stefan Luther vom Arbeitsmarktservice mahnt: Die neuen Daten zu Jugendarbeitslosigkeit seien medial falsch interpretiert worden. Die Lage sei keineswegs schlecht.
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Foto: LPA/Fabio Brucculeri
Der Aufschrei war groß, als ASTAT vergangene Woche die Zahlen zu NEETs (Neither in Employment nor in Education and Training) und ELETs (Early Leavers from Education and Training) veröffentlichte. Schließlich sind knapp 12.000 junge Erwachsene im Jahr 2021 weder einem Studium noch einer Arbeit nachgegangen. Für den Direktor des Südtiroler Arbeitsmarktservice, Stefan Luther, ist das Ganze dennoch vor allem „ein Sturm im Wasserglas“.
Unsere Stärke ist es, die Jugendlichen relativ früh in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
„Bei der Einordnung dieser Daten muss der Zeitraum unbedingt in Betracht gezogen werden, denn es ist das Jahr 2021. Sowohl 2021 als auch 2020 waren besondere Jahre auf dem Arbeitsmarkt, die man nicht losgelöst von der Covid-19-Pandemie interpretieren kann“, erklärt Luther. Deshalb seien diese Zahlen nicht repräsentativ für die derzeitige Situation.
Im Jahr der Erhebung war die Arbeitslosenquote mit 3,8 Prozent in Südtirol im Vergleich zu den vorigen Jahren eher hoch, daher verwundere es nicht, dass auch mehr junge Menschen keiner Beschäftigung nachgegangen sind. Neben der Quote der Jugendarbeitslosigkeit fallen weitere sehr heterogene Komponenten in die Statistik der NEETs. „In Südtirol bewegt sich die NEET-Kennzahl seit Jahren zwischen 9 und 12 Prozent. Da die NEET aus sehr verschiedenen Gruppen bestehen, geht es nicht so sehr darum, etwas für sie zu tun, sondern zu verstehen, wer innerhalb der NEET welche Problematiken mitbringt.“
 
 

Heterogene Kennzahl

 
Beispielsweise fallen auch junge Mütter in die NEET-Statistik. Bei einem Durchschnittswert der Jahre 2013 bis 2017 von 4.400 inaktiven Frauen gab es gleichzeitig auch 1.900 Mütter unter 30 Jahren mit einem Kind unter einem Jahr. Auch junge mitunter gut qualifizierte Personen, die Familienangehörige pflegen, fallen in die NEET-Statistik. „Arbeit und private Verpflichtungen sind nicht kompatibel“, konstatiert Luther.
Um die Untergruppe von jungen Personen, die Pflegeaufgaben übernehmen, besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren, brauche es deshalb umfassende Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie. „Die Rahmenbedingungen für eine gute Vereinbarkeit zu schaffen, ist die Aufgabe von vielen“, so Luther.
Dazu zählen die Sozialpartner, die Kollektivverträge aushandeln, aber auch die öffentliche Hand und die Unternehmen als Arbeitgeber. Etwa brauche es bei der Kinderbetreuung nicht nur ein Entgegenkommen bei den Öffnungszeiten der Betreuungsstätten, sondern auch bei der Arbeitszeit. „Es braucht Flexibilität auf beiden Seiten.“
 
 
Eine weitere Untergruppe der NEET-Kennzahl sind Jugendliche, die Luther als „Freigeister“ beschreibt. „Sie wollen sich selbst verwirklichen, machen eine Auszeit und sind keine Problemfälle.“ Für sie sei es schwierig, geeignete arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zu erarbeiten – das sei auch gar nicht notwendig, da sie nach einiger Zeit von selbst in den Arbeitsmarkt zurückkehren.
Gleichzeitige gebe es in der heterogenen Gruppe der NEET aber auch junge Menschen, die mit großen Problemen zu kämpfen haben. „Hier ist Jugend- und Sozialpolitik gefragt“, so Luther. Denn diese Gruppe müsse in einem ersten Schritt wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden, bevor eine Ausbildung oder eine Arbeit angestrebt werden kann. 
Des Weiteren sind auch frühzeitige Schulabgänger*innen (ELETs) Teil der NEETs. Zum einen handle es sich dabei um Personen, die tatsächlich nach der Mittelschule keine weiterführende Schule oder Berufsausbildung begonnen haben. Zum anderen aber fallen auch Lehrlinge in die international definierte Statistik. „Die internationale Definition weist Schwächen auf, um diese Gruppe gut zu messen, weil viele Formen der Aus- und Weiterbildung nicht den formalen Kriterien entsprechen.“
 

Aktuelle Situation

 
Mittlerweile hat sich die Südtiroler Wirtschaft weitestgehend von den Folgen der Covid-19-Pandemie erholt: „Laut den jüngsten Daten aus dem Jahr 2022 ist die Arbeitslosenquote so tief wie sonst selten“, erklärt Luther. Außerdem liegt der Wert der NEETs seit Jahren im Vergleich zu anderen italienischen Regionen eher tief.
„Unsere Stärke ist es, die Jugendlichen relativ früh in den Arbeitsmarkt zu integrieren“, so Luther. Sowohl die Lehre als auch die Ausbildung in Vollzeit würden jungen Menschen einen Start ins Arbeitsleben ermöglichen, falls die Oberschulen nicht das Richtige für sie sind. Allerdings schneide das Bildungssystem im Vergleich zu den nördlichen Nachbarn schlechter ab.
 

Herausforderungen

 
„Das liegt wahrscheinlich daran, dass unser Berufsbildungs- und Lehrsystem nicht unbedingt die gesamte Gruppe der Bevölkerung mitnimmt. Vor allem in der italienischsprachigen Bevölkerung erfährt dieses System keine große Wertschätzung und wird deshalb eher gemieden.“ In Italien gibt es keine öffentlichen Berufsschulen und keine Lehre, Südtirol sei deshalb in Italien mit dem dualen Bildungsweg ein Sonderfall. „Die Berufsausbildung ist in Italien nicht kulturell verankert.“
Gerade Südtirol bietet laut ASTAT aber viele Arbeitsstellen an, für die kein Hochschulabschluss, sondern entweder nur die Mittelschule oder die Oberschule bzw. eine Berufsausbildung notwendig sind. Der florierende Arbeitsmarkt in Südtirol sei durch einen im Vergleich zu anderen Gebieten (Italien und Nachbarländer) geringen Anteil an Beschäftigten mit Hochschulabschluss gekennzeichnet.
Laut Luther seien die Arbeitsplätze durch die Digitalisierung und Automatisierung nicht weggefallen, aber sie bringen neue Anforderungen mit sich. „Die Digitalisierung schafft neue Berufsbilder im akademischen oder halbakademischen Bereich.“ Nun sei es die Herausforderung, trotz des demografischen Wandels genügend Arbeitskräfte zu finden.
Dabei werde das Thema Gehälter eine große Rolle spielen. „Die Frage ist, was uns eine Arbeitskraft kosten kann und muss.“ Gerade bei menschenbezogenen Dienstleistungen, wie etwa auch der Service in einer Bar, prognostiziert der Arbeitsmarktexperte eine Preissteigerung.