Das Filmfestival als Spiegel der Welt
Es ist ein seltsames Spiel. In den unterschiedlichsten Städten auf der ganzen Welt versammeln sich Menschen, aus allen Herren Ländern herbei strömend, und sie setzen sich für einige Tage in dunkle Säle, um dort ein sorgsam kuratiertes Programm zu sichten. Nach dem Film versinkt man in Gedanken, oder äußert dieselben, jedenfalls ist man am Diskurs interessiert. Das Kino gilt für diese Menschen an diesen Orten als Kunstform, welche mehr ist als schlichte Unterhaltung. Die Rede ist natürlich vom Filmfestival. Aktuell kann man diese Schauspiel in Bozen beobachten, wenngleich es sich hierbei um ein Besucherfestival handelt. Das soll dessen Bedeutung nicht schmälern, im Gegenteil öffnet es Tür und Tor für jedermann und jedefrau, und lädt ein, sich der Welt zu öffnen, den eigenen Blick über sie schweifen zu lassen, und wie man so schön sagt, über den Tellerrand zu blicken. Denn präsentiert werden bei Festivals nicht nur Werke, die aus der ganzen Welt eingereicht, ausgewählt und vorgeführt werden, sondern es sind auch Subjektiven, die enorm wichtig sind, um den Menschen als komplexes, stets von äußeren wie inneren Strukturen abhängiges Wesen zu verstehen. Wir sind nun mal, woher wir kommen, was wir erleben und empfinden. Diese Innerste wissen Filmemacher*innen mit den Mitteln des Kinos nach Außen zu stülpen. Es ist mitunter ein schmerzvoller Prozess, denn er legt die verletzliche Seite des Schöpfers bzw. der Schöpferin frei. Sie machen sich verwundbar. Bei einem Festival, bei dem alle Augen auf der Qualität des Werkes liegt, umso mehr. Dennoch sind diese Veranstaltungen unerlässlich. Man kann auf sie nicht verzichten. Wie arm das Kino ohne sie ist, zeigte sich deutlich während der ersten beiden Jahre der Pandemie. Zahlreiche große und kleine Festivals fanden nicht, oder nur sehr eingeschränkt statt. Auf jeden Fall fehlte der Austausch nach dem Film, das Diskutieren, das Debattieren. Nun kann dem in den meisten Fällen wieder nachgegangen werden. Cannes, Berlin, Venedig, die drei Platzhirsche in der Welt des Festivals finden wieder wie gewohnt statt, auch in Bozen sitzt das Publikum wieder im Saal, statt zuhause, vor einem Bildschirm.
Festivals sind Schmelztiegel. Der Zustand der Welt spiegelt sich in ihrem Programm. Dass es dabei in meisten Fällen Auszeichnungen gibt, wird beinahe zur Nebensache. Es werden Preise für den Besten Film, die besten Darsteller usw. vergeben, doch muss man doch die Sinnhaftigkeit einer solchen Auszeichnung in Frage stellen. Kunst unter Künsten zur Besten zu küren, ist ein aussichtsloses Unterfangen und kann höchstens durch einen Kompromiss zweckmäßig gelingen. Immerhin jedoch steht der Preis am Ende einer Schau. Eine internationale Jury entscheidet über die Preisträger, allein deshalb hat jeder Preis eines Festivals, und sei es noch so klein und unbedeutend, mehr Relevanz als die jährlich vergebenen Filmpreise wie die US-amerikanischen Oscars oder die britischen Baftas. Diese Veranstaltungen sind erstens nationale Events, können so also unmöglich einen Überblick über das internationale Wirken Filmschaffender bieten, zweitens ist es ein reines Schaulaufen, bei dem es nicht um die Kunst, sondern um Einfluss und Macht geht. Zu starr sind die Systeme nationaler Filmpreise, zu eingefahren die Regeln. Ein Festival hingegen bietet allein durch wechselnde Jurys diverse Sichtweisen, passend zum wechselnden, bunt gemischten Programm.
Ist man zu Gast auf einem Filmfestival, etwa in Cannes, so wähnt man sich nicht selten in einem Traum. Unwirklich erscheint das Treiben, unwirklich, da dem Kino an diesen Orten und diesen Tagen ein Status eingeräumt wird, der beim Blick auf die Welt in ihrer Ganzheit absurd wirkt. Das soll nicht bedeuten, dass es auf Festivals keine Politik gibt, nicht selten sind besonders die großen Veranstaltungen Orte politischer Statements, nicht zuletzt anhand von Filmen selbst.
Wir sollten dankbar sein, dass Bozen ein Festival zu bieten hat. Es kann nur aufgefordert werden, die Vorführungen zahlreich zu besuchen, es lohnt sich bestimmt. Ohne Festivals würde das Kino ärmer sein, es würde zu einem Brei aus Gleichheit verkommen, oder aber, die wahre Kunst würde übertüncht werden von den Massenprodukten.
Erlauben Sie mir zum Schluss dieser Liebeserklärung einen sakralen Vergleich, der die Bedeutung des Prinzips Festivals klar machen soll. Für einen Cineasten, eine Cineastin ist das Kino eine Art Religion. Der Film ist die heilige Schrift, der Saal die Kirche, und die Festivals sind heilige Orte, die Pilgerstätten sozusagen. Cannes als größtes und wichtigstes internationales Festival ist nicht weniger der Vatikan. Amen und Film ab.