„Mama sei an seinem Unglück schuld“
Am vierten Prozesstag im Gerichtsverfahren gegen Benno Neumair spricht seine Schwester Madé Neumair im Zeugenstand. Benno soll am 4. Januar 2021 seine Eltern Peter Neumair und Laura Perselli in ihrer Wohnung in Bozen erdrosselt haben. Auch wenn er seine Tat gestanden hat, muss das Schwurgericht nun über seine Zurechnungsfähigkeit und damit über das Strafausmaß entscheiden.
Während der Angeklagte vormittags bei der Zeugenanhörung nicht anwesend war, erscheint er bei der Zeugenaussage von Madé. Die Geschwister sitzen wenige Meter entfernt voneinander. Auch wenn sie keinen direkten Augenkontakt zu suchen scheinen, schauen sie während der Anhörung dennoch gelegentlich in die Richtung des Anderen.
Benno kann Menschen sehr gut überzeugen, wenn er will. Deshalb wollte ich, dass die Polizei auch eine andere Meinung hört - Madé Neumair
Für Madé ist es keine Überraschung, dass ihr Bruder für das Verschwinden der Eltern am 4. Januar 2021 die Verantwortung trägt. Sie hatte bereits Kontakt zur Polizei gesucht, als Benno am Tag nach dem Verschwinden eine Vermisstenanzeige aufgegeben hatte. „Benno kann Menschen sehr gut überzeugen, wenn er will. Deshalb wollte ich, dass die Polizei auch eine andere Meinung hört“, erklärt sie vor Gericht.
Die Vorahnung
Die Stimme ihrer Mutter hörte Madé zum letzten Mal am 4. Januar am Telefon, als Laura Perselli von ihrer Großmutter erzählte, die gerade aus dem Krankenhaus gekommen war. Als am nächsten Tag weder ihre Mutter noch ihr Vater ihre WhatsApp-Nachrichten erhielten, begann sie sich ernsthaft Sorgen zu machen und rief die Nachbarn ihrer Eltern an. Zu diesem Zeitpunkt lebte Benno seit mehreren Monaten wieder in der Wohnung von Laura Perselli und Peter Neumair.
Madé hatte am 5. Januar auch Benno angerufen. „Seine Stimme klang aufgeregt und er erzählte, dass er außer Haus geschlafen und das Auto genutzt habe. Nun sei er am Ritten spazieren. Es wunderte mich, dass ich während dem Anruf keine Hintergrundgeräusche hörte“, so Madé. Als sie kurz darauf ihre Nachbarin Jessica bat, an der Wohnungstür der Eltern zu klingeln und am Apparat mithörte, machte Benno der Nachbarin die Tür auf und begrüßte sie. Madé wurde misstrauisch und rief daraufhin ihren Bruder an, der meinte, er sei soeben vom Ritten nachhause gekommen.
„Ich hatte große Angst, dass nichts herauskommen werde“, sagt Madé im Nachhinein über das Verschwinden ihrer Eltern. Nach einer schlaflosen Nacht in ihrer Wohnung in München beschloss sie deshalb, nach Bozen zu fahren und bei der Familie ihrer Tante Carla Perselli zu schlafen. „Ich habe in den Tagen der Suche nicht die leere Wohnung und die Gegenstände meiner Eltern sehen wollen.“
Eskalierender Streit
Knapp zwei Wochen nach dem Verschwinden ging sie am 17. Januar dennoch in die Wohnung, in der Benno lebte, und wurde dabei von Onkel, Tante und Cousine begleitet. Sie habe persönliche Dinge wie Kleidungsstücke gebraucht und wollte ihren Bruder persönlich zur Rede stellen. Der Streit, der sich in der Wohnung darauf abspielte, hat Madé aufgenommen. Teile des Gesprächs werden im Gerichtssaal abgespielt.
Ich wollte nicht, dass Benno versteht, dass ich ihn verdächtige - Madé Neumair
Madé warf Benno vor, etwas mit dem Verschwinden der Eltern zu tun zu haben. In der schwer verständlichen Sprachaufnahme sind Frauenstimmen und die aufgebrachte, teilweise hysterische Stimme Bennos zu hören. „Was sagst du da“, fragt er. „Ich will nur die Wahrheit wissen“, entgegnet Madé.
„Ich wollte nicht, dass Benno versteht, dass ich ihn verdächtige“, sagt sie. Das ist ihr nicht gelungen, gibt sie vor Gericht zu. „An diesem Tag war ich gegenüber Benno kalt und distanziert. Das störte ihn und er warf mir vor, ihn nicht liebevoll zu behandeln.“ Am Ende des Gesprächs verlangte Madé von ihm, zu schwören, dass er nichts mit dem Verschwinden der Eltern zu tun habe. Er schwor es.
„Benno hat schon tausendmal gelogen, das ist Teil seines Charakters. Seine Lügen waren auch Grund für Streitigkeiten“, erklärt Madé vor Gericht.
Hilfe abgelehnt
In der Anhörung erzählt sie von einem weiteren Telefongespräch mit ihrer Mutter Anfang Januar 2021. „Mama war sehr traurig, weil sie wieder mit Benno gestritten hatte. Er hatte ihr gesagt, dass sie an all seinem Unglück schuld sei“, erzählt Madé. Ihre Mutter hatte sich gewünscht, dass Benno sich mehr am gemeinsamen Familienleben beteiligt und sie kritisierte seinen Umgang mit Medikamenten. Sie und ihr Mann gaben Benno den Ratschlag, psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das lehnte Benno ab.
Über die eigene Beziehung zu Benno sagt Madé, dass sie eine schöne gemeinsame Kindheit verbracht hatten. Als Benno 2012 anfing, zu dopen, verschlechterte sich ihre Beziehung. „Ich habe da Medizin studiert und war deshalb sehr beunruhigt, dass er sich Hormone injizierte.“ Erst als sie das Thema Doping nicht mehr ansprach, stabilisierte sich die Beziehung wieder. Dann kam der Sommer 2020.
Freundin schlug Alarm
Seit Beginn der Corona-Pandemie lebte Benno mit seiner damaligen Freundin aus Deutschland in Ulm. Der Familie erzählte er, dass er bei einem Bio-Supermarkt arbeite. Das stellte sich später als Lüge heraus. Als die Beziehung zu seiner Freundin im Juli 2020 schwieriger wurde, rief er seine Eltern an und bat sie, ihn abzuholen. Sieben Stunden Autofahrt später stellte sich heraus, dass Peter Neumair und Laura Perselli umsonst nach Ulm gefahren waren: Benno hatte sich mit seiner Freundin versöhnt und wollte nicht nach Südtirol.
Ich hatte Angst, dass Benno im Auto mit den Eltern erweiterten Suizid begeht - Madé Neumair
Zwei Tage später rief die Freundin selbst aber bei ihren Eltern an. Denn Benno behauptete, dass ihre Freunde ihn angegriffen hätten und schickte als Beweis dafür ein Selfie von ihm mit Blutergüssen um den Augen. Auch hier stellte sich später heraus, dass Benno gelogen und die Situation inszeniert hatte. Als die Freundin nach Hause kam, empfing er sie mit einem Küchenmesser ihn der Hand. Sie schaffte es, ihn zu beruhigen, verließ die Wohnung und alarmierte die Behörden.
Aufenthalt in der Psychiatrie
Benno wurde von der Polizei festgenommen und in die Psychiatrie eingeliefert. Die Diagnose: Persönlichkeitsstörung mit einer möglichen paranoiden Schizophrenie. Als die Eltern beschlossen, Benno abzuholen, geriet Madé in Panik: „Ich hatte Angst, dass Benno im Auto mit den Eltern erweiterten Suizid begeht.“ Ihre Mutter beruhigte sie. Bis nach Innsbruck hatten Freunde aus Ulm Benno begleitet. In Innsbruck holte ihn sein Vater ab, mit dem er laut Madé weniger stritt als mit der Mutter und mit ihr. Über diese Zeit sagt sie: „Diese Monate waren für uns alle schlimm.“
In den letzten Telefongesprächen hatte die Mutter Madé erzählt, dass die Eltern manchmal aus Angst vor Benno das Schlafzimmer absperrten. Ihren Tod verhindern, konnten sie damit nicht. Der nächste Prozesstermin mit der Fortsetzung der Anhörung von Madé findet am 12. März statt.