Ein Konflikt, den Italien nicht braucht
„Sie haben nicht aufgehört, zu stehlen. Aber sie haben aufgehört, sich dafür zu schämen. Jetzt stehen sie dreist zu dem, was sie früher im Verborgenen taten“, so der neugewählte Präsident des Richterverbandes „Associazione Nazionale Magistrati/ANM“, Piercamillo Davigo, im Interview mit dem „Corriere della Sera“. Mit „Sie“ sind die korrupten Politiker gemeint.
Davigos Anklage
Davigo ist nicht irgendein Richter. Als einer seiner profiliertesten Mitglieder gehörte er Anfang der 90er Jahre zu dem berüchtigten „Pool von Mani Pulite“, jenen Mailänder Staatsanwälten, die die Korruption zwischen den höchsten Ebenen der Politik und der Wirtschaft aufdeckten und deren Akteure auf die Anklagebank brachten. Die so genannte „Tangentopoli-Affäre“ läutete der Zusammenbruch der damaligen Regierung und der sie tragenden Parteien Democrazia Cristiana und Partito Socialista ein. Und damit das Ende der “Prima Repubblica“. Ihr folgte die Ära Berlusconi.
Piercamillo Davigo
Die Kritik des neuen ANM-Präsidenten hat es in sich. Der Unterschied zwischen Berlusconi damals und der Regierung heute bestehe eigentlich nur darin, dass „es die Rechte damals viel zu krass und auch noch schlecht betrieb, während die Linke eher gezielt vorgeht“. So habe Renzi zum Beispiel die Grenzen für die Strafbarkeit einiger Delikte und das Limit für Barzahlungen erhöht, was Korruption und Geldwäsche erleichtere. Das Antikorruptionsgesetz sei untauglich, wie die geplante Verlängerung der Verjährungsfristen.
Einige Tagen später, anlässlich einer „lectio magistralis“ in der Universität Pisa, legte Davigo nach: „Wenn die führende Klasse Verbrechen begeht, sind die Zahl ihrer Opfer und der Schaden viel größer, als wenn irgendein Kleinganove am Werk ist“.
Renzi: „Politik ist der Justiz nicht subaltern“
Dass die Regierungsseite reagieren musste, war klar. Der von Davigo harsch angegriffene Ministerpräsident erklärte: „Politiker, die stehlen, kotzen mich an. Man muss sie ausfindig machen und verurteilen. Das ist die Aufgabe der Richter, denen wir dabei von Herzen erfolgreiche Arbeit wünschen. Aber zu behaupten, alle seien schuldig, bedeutet, dass keiner schuldig ist. Ich will Namen und Nachnamen. Und ich will Urteile sehen“. Und auf die Frage, ob es erneut (wie zu Berlusconis Zeit) zu einem Konflikt zwischen Exekutive und Justiz komme: „Das sehe ich nicht. Ich fordere alle auf, ihre jeweiligen Aufgaben unter Beachtung der Verfassung zu erfüllen. Wir machen die Gesetze, sie die Prozesse“. Die Politik sei der Justiz nicht subaltern, betonte er.
Dass alle schuldig seien, hatte Davigo zwar nicht behauptet (und wies dies auch als Unterstellung zurück), und Renzis Insistieren darauf, dass er „Urteile sehen“ wolle, ist zwar berechtigt, aber dient auch dazu, von der Verantwortung der Regierung und der Parteien bei der Lösung des Problems abzulenken. Zumal Renzi dieses Mantra bevorzugt einsetzt, wenn Mitglieder und Funktionsträger seiner eigenen Partei von Korruptionsskandalen betroffen sind, was leider allzu häufig der Fall ist. Wie zuletzt im Fall von Stefano Graziano, dem Präsidenten der PD in Kampanien und Mitglied des Regionalparlaments. Gegen Graziano, der inzwischen von allen Funktionen zurücktrat, laufen Ermittlungen, weil er in Verdacht steht, sich gegenüber Regierungsstellen für lukrative Geschäfte eingesetzt zu haben, hinter denen die Camorra steht. Wofür sich der Clan bei den Regionalwahlen mit Tausenden von Präferenzstimmen revanchiert habe und so seine Wahl sicherte.
Mit seiner Kritik korrupter Politiker legt Davigo also den Finger in eine klaffende Wunde. Und seine bittere Erkenntnis, inzwischen würden sich die Betroffenen nicht mal mehr für ihre Taten schämen, verdient eine ernsthafte Antwort – und vor allem wirksames Handeln – seitens der Regierung und der Parteien. Die schlichte Aufforderung von Renzi an die Richter: „Dann macht doch die Prozesse und sprecht Urteile“ schiebt Verantwortung ab. Man kann zwar bemängeln, dass Davigos Kritik in der vorgebrachten Form nicht differenziert genug war und dass er mit ihr allzu leichtfertig den rechtspopulistischen Topos bediente, dass „die da oben doch nur stehlen und betrügen“, dessen Beliebtheit von Grillo bis Salvini und von der AfD bis zur Pegida reicht (tatsächlich bejubelte Grillo in seinem Blog sogleich Davigos Äußerungen als Bestätigung dessen, was er schon immer gesagt habe). Das hätte ein so erfahrener und kluger Richter wie Davigo wissen und bedenken müssen. Aber das ändert nichts daran, dass die Kritik in der Sache zutrifft.
„In der Sache richtig, im Ton vergriffen“
Innerhalb des Richterverbandes ANM gehen die Meinungen über Davigos Auftritt auseinander. Manche stärken ihm den Rücken, andere gehen auf Distanz: „In der Sache richtig, im Ton vergriffen“, besonders wegen des Amts, das er bekleidet. Sie betonen, nach meiner Meinung zu Recht, dass Regierung und Justiz – in gegenseitiger Respekt der jeweiligen Autonomie – zwar nicht kritiklos, aber doch konstruktiv miteinander umgehen sollten. Alles andere schade der Demokratie und den Institutionen. Und fördere den Politikverdruss und den Glauben an „einfache Lösungen“.
Dieser Meinung ist – man könnte sagen, schon „von Amts wegen“ – auch der Staatspräsident, der oberste Hüter der Verfassung. Mattarella, der früher selbst Verfassungsrichter war, ist über den Konflikt „not amused“ und versucht hinter den Kulissen die Wogen zu glätten.
In der Tat wäre eine neue Konfrontation zwischen Exekutive und Judikative „à la Berlusconi“ das Letzte, was Italien jetzt braucht. Das genaue Gegenteil ist notwendig: dass alle drei Säulen der Staatsgewalt – Parlament, Justiz und Regierung – jetzt ihre Energien darauf konzentrieren, in ihren jeweiligen Kompetenzbereichen das Krebsgeschwür der Korruption und die Verstrickung von Politikern und Funktionsträgern mit der organisierten Kriminalität zu bekämpfen.
Auf jeden Fall betonen Davigo und andere Richter zu Recht: Dafür, dass es in Italien zu einer neuen politischen Kultur und moralischen Erneuerung kommt, steht nicht primär die Justiz, sondern die Politik in der Verantwortung. Dieser Verantwortung kommt Renzi nicht genügend nach, und zwar weder als Regierungschef noch als Generalsekretär seiner Partei. Seine sinkenden Umfragewerte und die steigenden der 5-Sterne-Bewegung und Di Maios (des neuen „Stars“ der Grillini, welcher der nächste Ministerpräsident Italiens werden könnte) müssten für ihn ein Warnsignal sein. Die Betonung liegt auf „müssten“.