Neapels Kinder
Der Roman Ciros Versteck von Roberto Andò, erschienen im folio Verlag, lässt einen bestimmt nicht kalt. Irgendwie ist für alle etwas dabei: für diejenigen, die nüchterne Familiendramen mögen, für Fans von Büchern über die Mafia, für alle Philosophie liebenden, sogar für diejenigen, die sich für Psychologie interessieren. Nur Humor ist keiner dabei, denn als lustig kann man dieses Buch nicht bezeichnen.
Ort des Geschehens ist ein von der Camorra regiertes Viertel Neapels. Die Protagonisten sind Gabriele Santoro, der auch „Maestro“ genannt wird und ein in seinem Viertel angesehener Klavierlehrer ist, und Ciro, dessen Familie Gabrieles Nachbarn sind, er ist mit zehn Jahren der jüngste Sohn von Carmine Acerno, einem Mitglied der Camorra.
Eines Spätsommermorgens hat Gabriele sich Verse rezitierend rasiert als er etwas später bemerkt, dass Ciro sich hinter seiner Couch versteckt. Die ganze Camorra sucht nach ihm, doch er verrät Gabriele den Grund dafür nicht. Trotzdem darf er bleiben. Als Diego, ein ehemaliger Schüler Gabrieles, der nun zur Camorra gehört, zu Besuch kommt und sich dabei in Gabrieles Wohnung nach dem Jungen umsieht, versteckt sich Ciro im Hängeboden über dem Bücherregal.
Gabriele kümmert sich zuerst um das Nötigste für den Jungen: Schlaf, Kleidung, Essen, ein Bad. Immer wieder versucht er von Ciro zu erfahren, was vorgefallen ist, denn im ganzen Viertel gehen Gerüchte um. Er versucht sich an seinen Bruder Renato zu wenden, der Staatsanwalt ist, doch der empfiehlt ihm nur, sich aus der Sache herauszuhalten. Auch von der Polizei kann Gabriele keine Hilfe erwarten: auf dem Polizeirevier verkehren Mitglieder der Camorra als sei es ihr eigenes Wohnzimmer.
Dass die Lektüre manchmal düster, manchmal poetisch ist, treibt einen weiter an, sie innerhalb eines einzigen Tages zu verschlingen.
Die Situation wird angespannter, Gabriele traut kaum noch jemandem, das Mietshaus wird unter Tags überwacht und schließlich gesteht Ciro, weshalb halb Neapel ihn sucht: er wollte mit seinem Freund Rosario eine alte Dame beklauen, die dabei gefallen ist und schwer verletzt wurde, dann im Koma lag. Es hatte sich herausgestellt, dass diese Frau die Mutter von de Vivo war, dem Haupt der Camorra in dem Viertel.
Gabriele merkt, dass die Camorra ihn unter Verdacht hat, den Jungen zu verstecken, als Diego immer öfter auftaucht. Er beschließt, ihn zu verfolgen und wird so zu de Vivo geführt und erfährt, dass dieser sich am Donnerstag in einem Hotel mit einer Frau treffen will. Ob ein Anschlag auf de Vivo alle Schwierigkeiten auflösen könnte? Dank Ciro kennt Gabriele das Waffenversteck von Carmine Acerno und hat von dem Kind gelernt, mit einem Colt umzugehen.
Inzwischen streiten sich Ciro und Gabriele seltener, sie beginnen sich zu verstehen und zu respektieren. Gabriele bleibt drei Tage in seiner Wohnung, um mit Ciro zu spielen und ihm eine erste Klavierlektion zu geben, um die brenzlige Situation etwas zu vergessen. Doch was wirklich ist, lässt sich nicht verdrängen und die Wirklichkeit holt Gabriele wieder ein, als er erfährt, dass Ciros Freund Rosario tot aufgefunden wurde. Als das Gerücht umgeht, Ciros Vater sei gestorben, beschließt Gabriele, mit Ciro zu fliehen.
Die Anspannung, die man sehr gut nachfühlen kann, steigt gegen Ende des Buches immer weiter an, bis hin zu einem bitteren Ende, das dennoch einen Lichtblick offenlässt. Dass die Lektüre manchmal düster, manchmal poetisch ist, treibt einen weiter an, sie innerhalb eines einzigen Tages zu verschlingen. In jedem ruhigen und friedvollen Moment der Geschichte merkt man, dass es sich nur um die trügerische Ruhe vor einem Sturm handelt: Der Camorra entkommt man nicht und sie ist überall. Vor allem ist sie in den Köpfen der Menschen, die sie fürchten, sich mit der Situation abfinden und schweigen.
Die vom Autor gewählte Sprache passt auch in der Übersetzung zu den verschiedenen Charakteren. Gabriele und sein Bruder Renato unterhalten sich zum Beispiel teilweise über Zitate, mit Ciro hingegen kommunizieren beide in einfacheren Worten. Auch ist die Sprache sehr situationsabhängig, sodass ein sich anbahnender Konflikt schon in den gewählten Worten zu erahnen ist.
Gabriele liebt besonders die Zitate von Konstantino Kavafis, die neben seinen Erinnerungen seine Rückzugsorte sind. In diesem Aspekt der Weltabgewandtheit des Protagonisten erinnert mich „Ciros Versteck“ an „Nachtzug nach Lissabon“ von Pascal Mercier, in dem der Protagonist ebenfalls als Sinnsuchender durch die Welt der Poesie wandelt. Trotzdem ist „Ciros Versteck“ keineswegs abgehoben, es wirkt sehr realitätsnahe und ehrlich. Als Leser kann man sich sehr gut in die Gefühle Gabrieles hineinfühlen, denn wer würde ein Kind vor die Tür setzen, das Schutz sucht? Doch Gabriele fühlt sich auch etwas hilflos: er wurde plötzlich in die Situation versetzt, sich um jemanden kümmern zu müssen und dabei auch noch sein eigenes Leben zu riskieren. Sein Bruder hat zu viel Angst, um ihm zu helfen und bereut dies erst am Ende des Romans. Gabriele aber besitzt Courage und das Leben gibt ihm im richtigen Moment die Möglichkeit, dies unter Beweis zu stellen.