Mitbestimmung ausbauen oder ausbremsen?
In der Debatte rund um die Volksabstimmung zum Landesgesetz „Direkte Demokratie, Partizipation und politische Bildung“ sind folgende drei Themen im Vordergrund gestanden: die bestätigende Volksabstimmung zu Landesgesetzen, die vom Landtag nicht mit Zweidrittelmehrheit beschlossen worden sind, die einführende Volksabstimmung zu von den Bürgerinnen und Bürgern ausgearbeiteten Gesetzesvorschlägen sowie die Bürgerräte als Form der konsultativen Mitsprache auf Landesebene. Das bereits dreißig Jahre währende Ringen für den Ausbau direktdemokratischer Instrumente wird durch bedeutsame Verbände und Umweltorganisationen sowie die Gewerkschaften unterstützt und von wichtigen Meinungsträgern der Zivilgesellschaft befürwortet. Das Anliegen der Demokratieverbesserung ist inzwischen emotional so stark aufgeladen, dass der Druck entsteht, sich binären Positionierungen anzuschließen: entweder im Gefolge der Initiative für mehr Demokratie, die zu diesem Thema die Meinungsführerschaft innehat, oder im Tross der Regierungsmehrheit, die nach der Niederlage beim Referendum keine Eile mit der Überarbeitung des Landesgesetzes von 2018 hat. Eine differenzierte Betrachtung kann jedoch helfen, im Hinblick auf die neuerliche Reparaturarbeit am Landesgesetz systemische Aspekte aufzuzeigen und Zielsetzungen und Prioritäten mit mehr Distanz einzuordnen.
Krisenwahrnehmung und Krisenherde
Anstatt des Rückzugs auf die im Vorfeld der Volksabstimmung zugespitzten politischen Positionen sollte jetzt eine grundsätzliche Diskussion dazu eröffnet werden, wie die Demokratie gestärkt und die Bürgerbeteiligung ausgebaut werden kann. Eine aufmerksame sozialpolitische Anamnese führt zu dem Ergebnis, dass nicht das System der repräsentativen Demokratie der Krankheitsherd ist, sondern die vielfach dokumentierte Geringachtung und die Aushöhlung ihrer Instrumente durch die Verantwortungsträger*innen. Entsprechende Missstände auf nationaler und internationaler Ebene und egozentrische Protagonismen und Renditespekulationen prägen die Darstellung der Politik in den Medien und damit die allgemeine Wahrnehmung.
Systemstabilisierung oder Systemwechsel?
Die Einführung zusätzlicher Instrumente der Bürgerbeteiligung entspricht angesichts dieser Sach- und Stimmungslage einem modernen Verständnis von gesellschaftlicher Governance. Das Ziel besteht darin, das Volk als Souverän mit mehr Möglichkeiten auszustatten, auf direktem Wege gesellschaftspolitische Anliegen vorzubringen, sich an der Suche nach geeigneten Lösungen zu beteiligen und Einfluss auf die Entscheidung zu nehmen bzw. selbst die Entscheidung zu treffen. Dieser Schritt ist aktuell eine notwendige kurative Maßnahme, um der Vertrauenskrise in die Politik entgegenzuwirken, die allenthalben spürbar ist. Die Integrierung solcher Maßnahmen in das Regelwerk der Demokratie bietet neue Möglichkeiten, das demokratische System zu stärken und Verantwortung für die Gemeinschaft als Prozess der Abwägung von Rechtsgütern und Suche nach einem Ausgleich unterschiedlicher Interessen erfahrbar zu machen.
Großen Zuspruch findet jedoch auch die Auffassung, dass das System der repräsentativen Demokratie als solches untauglich ist, um die Volkssouveränität im gebotenen Maße zur Entfaltung zu bringen. Damit verbunden wird vielfach die Vision, ein direktdemokratisches System nach dem Vorbild der Schweiz einzuführen. Diesem Ansatz folgend soll in Südtirol eine Reform eingeleitet werden, die über die Reparatur scheppernder Mechanismen der repräsentativen Demokratie hinaus geht und ein neues valideres Demokratiemodell etabliert. Elemente der direkten Demokratie lassen sich, wie die vorhandenen verfassungspolitischen und neuere gesetzliche Rahmensetzungen belegen, durchaus als Impuls oder Korrektiv mit der repräsentativen Demokratie in Einklang bringen. Ein radikaler Systemwechsel jedoch würde einschneidende Veränderungen auf normativer Ebene erfordern. Vor allem kann er nicht auf regionaler Ebene ohne Veränderung der staatlichen Gesetzgebungsarchitektur durchgesetzt werden.
Aufwertung der gesetzgeberischen Rolle des Landtags
Bevor über Beteiligungsinstrumente gesprochen wird, ist mit Blick auf eine korrekte Aufteilung zwischen Legislative und Exekutive dafür zu sorgen, dass die Rolle des Landtags als Gesetzgebungsorgan respektiert und aufgewertet wird. Häufig werden die Landesgesetze von der Landesverwaltung ausgearbeitet und dann, wenn möglich im Schnellverfahren, durch den Landtag geschleust. Gängige Praxis ist auch die Nutzung des Modells der Ermächtigungsgesetze: Dabei verabschiedet der Landtag nur sehr allgemein formulierte Grundsätze zu einem Zuständigkeitsbereich und delegiert die Entscheidung über die konkreten Anwendungskriterien an die Landesregierung. Letzthin haben sich einige Landtagsabgeordneten dagegen verwehrt, dass ihre Entscheidungsbefugnis beschnitten wird. Vor allem im Zusammenhang mit Landesplänen, die wichtige Weichenstellungen in einzelnen Politikfeldern beinhalten, ist eine fundierte öffentliche Debatte im Landtag notwendig. Dieser muss die Entscheidungskompetenz wieder selbst übernehmen.
Konflikte transparent machen und Lösungen hinterfragen
Dem Landtag muss ausreichend Zeit dafür eingeräumt werden, Gesetzesvorschläge nicht nur in den Gesetzgebungsausschüssen, sondern auch im Plenum zu diskutieren. Dabei sollen die Zielsetzungen herausgearbeitet und die unterschiedlichen Interessenlagen beleuchtet werden. Transparenz in den politischen Meinungsbildungsprozess hineinzubringen und konträre Interessen herauszuarbeiten, Lösungsvorschläge zu hinterfragen und das Gemeinwohlinteresse als Richtschnur in den Vordergrund zu stellen, diese Aufgabe erfüllen Politik und Medien nur unzureichend. Interessengeleitete Marketinginputs drücken dem Meinungsbildungsprozess ihren Stempel auf. Konflikte werden glattgebügelt und der öffentlichen Wahrnehmung das Bild vermittelt, dass es nicht notwendig ist, sich mit Politik zu befassen. Die Bürgerinnen und Bürger selbst machen es sich gerne auf der Couch im Wohnzimmer gemütlich und delegieren die Verantwortung an das System der Politik, sind aber dann schnell mit harscher Kritik zur Stelle, wenn sie entdecken, dass dieses System oft nicht angemessene und ausgewogene Lösungen produziert.
Gesetzgeberische Tätigkeit nachvollziehbar machen
Die Verlautbarungen der Politik und im stillen Kämmerlein zurechtgezimmerte Gesetze geben häufig nicht zufriedenstellende Antworten. Die Medien verfügen nicht über die Ressourcen, um Entscheidungsprozesse laufend kritisch zu begleiten und zu reflektieren. Sogenannte soziale Vermittlungsinstitutionen („corpi intermedi“) wie die Gewerkschaften und Sozialverbände sind mehr Dienstleister als politische Interessensvertretung. Deshalb sind neue Ideen dazu gefragt, wie Gesetzgebungsorgane Regelungs- und Reformbedarf und den entsprechenden Meinungsbildungs – und Entscheidungsprozess für die Bevölkerung nachvollziehbar gestalten können. Der Landtag selbst könnte die Aufgabe wahrnehmen und dafür sorgen, dass die Einleitung einer gesetzgeberischen Maßnahme mit einer umfassenden Aufbereitung der Sachlage, der normativen Grundlagen und der widerstreitenden Interessen beginnt. Dieser Schritt sollte strukturell verankert werden und durch eine eigene Bezeichnung die notwendige Sichtbarkeit erhalten – z. B. als Transparenzphase oder Sachverhaltsanalyse.
Neubelebung der Sozialpartnerschaft
Auch Instrumente der Konzertierung, wie sie die Sozialpartnerschaft im Österreich hervorgebracht hat, wären dazu geeignet, für eine Erdung der landläufig als abgehoben empfundenen Politik zu sorgen. Diese müssen allerdings formal strukturiert sein, um eine dauerhafte Wirkung zu entfalten. Festgestellt, dass „derzeit Sozialpartnerschaft in Südtirol keine tragende Rolle spielt“, hatte die Handelskammer 2014 die neuerliche Installierung des Wirtschafts- und Sozialbeirates angeregt. In der Phase des umfassenden Wandels von Wirtschaft und Gesellschaft sollte dieser Vorschlag nun aufgegriffen werden. Die Bereitschaft zu einer offenen Auseinandersetzung mit den Sachfragen vorausgesetzt, könnte die Sozialpartnerschaft einen neuen Frühling erleben. Sie braucht allerdings eine Zeit der Einübung in eine respektvolle und konsensorientierte Kultur des Umgangs miteinander.
Bestätigende Volksabstimmung als Korrektiv
Dies vorausgeschickt befasse ich mich nun konkret mit den Instrumenten der Bürgerbeteiligung, die mit dem Landesgesetz 22/2018 eingeführt worden sind. Eines davon ist die bestätigende Volksabstimmung. Im Rahmen der repräsentativen Demokratie liegt die Gesetzgebungsbefugnis beim Landtag. Generell die Vollziehbarkeit von Landesgesetzen an eine qualifizierte Mehrheit von zwei Dritteln zu binden beeinträchtigt die effiziente Arbeit des obersten Gesetzgebungsorgans, da das Inkrafttreten der Gesetze dadurch verzögert werden kann. Eine missbräuchliche Nutzung dieses Instruments ist vor allem dann nicht auszuschließen, wenn - wie im LG 22/2018 festgelegt - 300 Unterschriften ausreichen, um das entsprechende Verfahren zu aktivieren. Zu beachten ist auch, dass in einer stark segmentierten politischen Landschaft Regierungsmehrheiten meist nur durch die Koalition mehrerer Parteien gebildet werden können. Knappe Stimmenmehrheiten sind an der Tagesordnung.
Es macht hingegen Sinn, die bestätigende Volksabstimmung als Korrektiv zu Entscheidungen des Landtags vorzusehen. In diesem Falle ist es angebracht in Analogie zum Art 75 der Verfassung zur Bedingung zu machen, dass eine angemessene Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern eine Volksabstimmung beantragen. Das Landesgesetz Nr. 10 vom 17.07.2002 sieht für die Volksabstimmung gem. Art. 47 des Autonomiestatuts vor, dass bei Genehmigung mit absoluter Mehrheit im Landtag der Antrag von einem Fünfzigstel der bei Landtagswahlen Wahlberechtigten unterzeichnet werden muss. Das entspricht bei 430.000 Wahlberechtigten 8.600 Personen. Die im Landesgesetz 22/2018 vorgesehenen 13.000 Unterschriften sind schon eine beträchtliche Hürde. Diese könnte sich jedoch deutlich reduzieren, wenn die Unterschriftensammlung in Zukunft auch online erlaubt wird. Rechtlich zu überprüfen wäre die Möglichkeit der Einschränkung der bestätigenden Volksabstimmung auf bestimmte Bereiche oder auf Entscheidungen von großer Tragweite.
Demokratischer Quantensprung: Das Volk als direkter Gesetzgeber
Die einführende Volksabstimmung ermöglicht den Bürgerinnen und Bürgern, einen selbst ausgearbeiteten Gesetzentwurf direkt zur Abstimmung zu bringen. Das ist die vollendetste Form der Ausübung der Gesetzgebungsgewalt durch das Volk als Souverän. Diese Neuerung stellt eine Herausforderung für die Politik und die Lobbyzentralen dar. Ganz allgemein betrachtet, haben sich beide in dem System des Interessenausgleichs der repräsentativen Demokratie Vorteilspositionen gesichert: Die Politik weiß, dass nur über sie Einfluss auf die Rahmenbedingungen des Wirtschaftssystems genommen werden kann und die Lobbyzentralen verfügen über privilegierte Wege der Einflussnahme auf die Politik unter Umgehung eines strukturierten formalen Prozesses des Interessenausgleichs. Es verwundert nicht, dass die Scheinwerfer auf die bestätigende Volksabstimmung gerichtet sind, während die fehlgeschlagenen Versuche, dieses tiefgreifende Instrument der Mitsprache zu aktivieren, den Medien nur wenige Zeilen wert sind und im öffentlichen Diskurs ausgeblendet bleiben.
Pferdefuß im LG 22/2018
Zuletzt ist die Ablehnung einer Volksinitiative auf Landesebene zur besseren gesetzlichen Verankerung der Biodiversität in der Landwirtschaft von der zuständigen Kommission als nicht zulässig erklärt worden. Diese Entscheidung wurde damit begründet, dass der Eingriff in einschlägige Landesgesetze nicht möglich sei, da das Vorhaben Bereiche zu Querschnittskompetenzen betreffe, bei denen eine Überlagerung von lokalen, staatlichen und EU-Kompetenzen vorliegt und demzufolge entsprechende koordinierte Regelungen vonnöten seien. Die nicht nachvollziehbare Ausweitung der Prüfkompetenz der Kommission im Art. 7 des LG 22/2018 erweist sich hier offenbar als Pferdefuß.
Dabei sollte es eigentlich ganz einfach sein, ein Landesgesetz über eine Volksinitiative einzuführen. Unter Ausschluss der Materien, zu denen Volksabstimmungen nicht zulässig sind (Art. 4), sollte die Kommission nur überprüfen müssen, ob die von den Bürger*innen eingereichte Gesetzesinitiative Bereiche von Landeszuständigkeit betrifft. Wenn das der Fall ist, ist sie als zulässig zu erklären. Dann muss diese eine zweifache Hürde bestehen: Wie es bei den Landesgesetzen selbst im Landtag eine Mehrheit braucht, muss die Volksinitiative eine Mehrheit bei der Volksabstimmung erreichen, um in Kraft zu treten. Und sie muss im Falle von Anfechtungen wegen Verfassungswidrigkeit oder der Beschneidung justiziabler Rechte die gerichtliche Nagelprobe überstehen.
Möglicherweise braucht es noch einschlägige Gerichtsentscheide zur Priorisierung des Umweltschutzes, damit dieser gegenüber (durchaus legitimen) kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen durchgesetzt werden kann. Das ist alles eine Frage der Abstufung allgemeiner und individueller Interessen. Die Frage ist nur, ob wir es uns leisten können so lange zu warten, bis sich dazu eine solide Rechtssprechungstendenz entwickelt. Ökoverträgliches Wirtschaften muss umgehend zur Richtschnur werden. Und es dürfte auch blauäugig sein anzunehmen, dass sich mittlerweile eine Praxis von Good-Will-Vereinbarungen zwischen der öffentlichen Hand als Hüterin des Gemeinwohls und den privaten Wirtschaftsakteuren herausbildet.
Der Sicherstellung der Durchführbarkeit der einführenden Volksabstimmung für von den Bürgerinnen und Bürgern eingereichte Gesetzesinitiativen ist bei der Überarbeitung des Landesgesetzes Nr. 22/2018 höchste Priorität zuzumessen. Dieses Instrument bringt frische Luft in den Gesetzgebungsprozess.
Mehrheitsfähige Zielsetzungen und klare Regeln notwendig
Dennoch wird die einführende Volksabstimmung die Ausnahme bleiben. Das Verfahren durchläuft mehrere Stufen und erfordert einen hohen Vorbereitungsaufwand. Die der Bevölkerung zur Abstimmung unterbreitete Gesetzesvorlage muss Themen aufgreifen, für die die breite Öffentlichkeit eine hohe Sensibilität aufweist, und Maßnahmen beinhalten, deren Zweckmäßigkeit unmittelbar einleuchtet bzw. leicht vermittelbar ist. Der Erfolg bei der Abstimmung ist wesentlich davon abhängig, ob eine ausgewogene Information bereitgestellt wird. Vor der Volksabstimmung selbst findet eine Phase intensiver Wahlwerbung statt: In Ermangelung akkordierter Regeln ist damit zu rechnen, dass Befürworter und Gegner, je nach finanziellen Möglichkeiten und verfügbaren Einflussinstrumenten alle Register ziehen werden, um ihre Sichtweise mehrheitsfähig zu machen. Bei der im Wahlkampf unausweichlichen Reduzierung des Anliegens auf eine Kernbotschaft erreichen nur sehr plakative Aussagen die breite Masse der Wählerinnen und Wähler. Da kann es passieren, dass das eigentlich für die Allgemeinheit relevante Anliegen unterbelichtet bleibt.
Beteiligungsinstrumente als Chance, den Vertrauensverlust wettzumachen
Die Aktivierung von Bürgerräten ist ein probates, auf Gemeindeebene verschiedentlich schon angewandtes Instrument, um die Bevölkerung in die Gemeindepolitik einzubinden und eine Kooperation zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und der Verwaltung herzustellen. Konkrete Erfahrungen der Mitgestaltung des Gemeinwesens sind ungemein wertvoll, um Gemeinschaft als Verantwortungsdimension erfahrbar zu machen. Ganz allgemein betrachtet können Beteiligungsprozesse sehr unterschiedlich moduliert werden. Die Gestaltung hängt in erster Linie davon ab, ob dem Meinungsbildungsprozess eine rein konsultative Funktion zugebilligt wird oder die Ergebnisse für die Verwaltung bindend sind. Eine Grundsatzentscheidung ist auch, ob bei entsprechenden Veranstaltungen generell am Thema Interessierte oder von der Entscheidung Betroffene eingeladen werden oder die Teilnehmenden einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung darstellen. Bei den Bürgerräten ist die Repräsentativität der Personen, die sich am Meinungsbildungsprozess beteiligen, eine zentrale Charakteristik.
Aufgabe des Landesgesetzes wäre es eigentlich festzustellen, dass es zahlreiche Formen der Bürgerbeteiligung gibt, deren Charakteristiken zu beschreiben und deren Nutzung zu fördern. Insbesondere sollte die Einrichtung von Bürgerräten auf Landesebene und Gemeindeebene unterstützt werden, indem die Kernanforderungen für qualitativ hochwertige Beteiligungsprozesse benannt und die jeweiligen institutionellen Akteure verpflichtet werden, entsprechende Verfahrensregeln für die als zweckmäßig erachtete Form festzulegen.
Ein zu enges Korsett für die Bürgerräte
Im Landesgesetz 22/2018 ist erkennbar, dass bei der Regelung der Bürgerräte eine reduktive Verwaltungslogik in Bezug auf die Bürgerbeteiligung dahintersteckt. Ein Bekenntnis dazu, dass wir in unserem demokratischen System neue Brücken zwischen der Politik und dem Volk als eigentlichem Souverän brauchen, wird schmerzlich vermisst. Es ist wichtig, dass im Landesgesetz zur direkten Demokratie und zur Bürgerbeteiligung das Potenzial deutlich hervorgehoben wird, das aktuell Prozesse der Bürgerbeteiligung für die Revitalisierung der demokratischen Entscheidungsmechanismen aufweisen. Solche Instrumente im demokratischen Regelwerk dauerhaft zu verankern, ist zweifellos angebracht, da die Wahrnehmung von Beteiligungschancen durch die Bürgerinnen und Bürger bisher zu kurz gekommen ist, sei es aus zivilgesellschaftlicher Lethargie, aus Enttäuschung über Fehlentwicklungen im demokratischen Prozess oder aufgrund der Reduzierung auf eine Zuschauerrolle in dem großen und undurchsichtigen Spektakel Politik.
Bei der Überarbeitung des Landesgesetzes ist deutlich zu machen, was für die Qualität von Bürgerbeteiligungsprozessen entscheidend ist: 1) die Bereitschaft der politischen Institutionen, sich auf einen strukturierten Prozess der Mitsprache einzulassen, 2) die Festlegung vorab, ob und inwieweit dessen Ergebnisse als verbindlich anerkannt werden, 3) die Definition eines gegenüber den Zielsetzungen und den Beteiligten angemessenen Projektdesigns, 4) die Sicherstellung einer ausgewogenen und umfassenden Information der Beteiligten zum Gegenstand der Beratungen, 5) die Förderung einer sachlichen Auseinandersetzung mit dem Thema in den Medien, 6) die Vereinbarung von allgemein anerkannten Richtlinien zur Eingrenzung des Wahlkampfs, 7) die zeitnahe Umsetzung der Ergebnisse durch die Verwaltung, 8) die Dokumentation und Evaluierung des gesamten Beteiligungsprozesses.
Mit dem Landesgesetz 22/2018 ist dem Bürgerrat ist ein viel zu enges Korsett verpasst worden anstatt generell Formen der Bürgerbeteiligung als belebendes Ferment des demokratischen Prozesses willkommen zu heißen und entsprechende Gestaltungsspielräume aufzuzeigen. Hier ist eine Neufassung dieses Abschnitts des Landesgesetzes erforderlich.
Das Phantasma Büro für politische Bildung und Bürgerbeteiligung
Mit den Bürgerräten wird Neuland betreten. Das erfordert einen hohen Aufwand in Bezug auf die Sensibilisierung, Beratung und Förderung zu Fragen der Bürgerbeteiligung. Die Aufgabe Sensibilisierungsarbeit in Sachen Bürgerbeteiligung zu leisten und fachkundige Beratung anzubieten, ist dem Büro für politische Bildung und Bürgerbeteiligung zugewiesen worden. Für das Verständnis der Instrumente der Bürgerbeteiligung und deren korrekte Nutzung auf Gemeindeebene wäre eine Veranstaltungsreihe in den Bezirken hilfreich, auf der die Vor- und Nachteile informeller Mitbestimmungsformen erläutert werden, oder die Ausarbeitung einer Vorlage für die Regelung des Verfahrens für die Bürgerräte. Doch die Gemeindeebene ist als Aktionsfeld für dieses Büro im Landesgesetz nicht einmal angesprochen. Auch auf Landesebene hat sich nichts getan: Es sind bald vier Jahre ohne einen Versuch der konkreten Umsetzung vergangen.
Die lange Liste der Zuständigkeiten untermauert die Vermutung, dass das Büro für politische Bildung und Bürgerbeteiligung mit zu vielen Aufgaben überfrachtet wurde. Laut Landesgesetz 22/2018 hat es auch die Information der Bevölkerung bei Volksabstimmungen auf Landesebene sicherzustellen und die auf dieser Ebene angesiedelten Bürgerräte zu planen und zu organisieren. Da wurden also Demokratieförderung und Verwaltung der Beteiligungsinstrumente in dieselben Hände gelegt. Wäre das Büro inzwischen funktionstüchtig, so fände es sich in der Zwickmühle, einerseits für mehr Bürgerbeteiligung als Chance zivilgesellschaftlichen Engagements und verantwortungsbewussten Bürgersinns zu werben und andererseits die eng gefassten Zuständigkeiten für die Information bei Volksabstimmungen und für die Planung und Organisation von Bürgerräten wahrzunehmen und zu überwachen. Diese Rollen sollten auf der institutionellen Ebene auseinandergehalten werden.
Ob das entsprechende Büro bei der Landesverwaltung (wie in Vorarlberg), dem Landtag (wie im LG 22/2018 vorgesehen) oder einer anderen Institution (wie mit dem gescheiterten Reformgesetz von 2021 beabsichtigt) angesiedelt wird: es muss über einen gesicherten Entfaltungsfreiraum verfügen und seine Unabhängigkeit von politischer Einflussnahme gewährleistet sein. Der gesetzliche Rahmen reicht völlig aus, um die Tätigkeitsfelder des Büros abzustecken, sodass sich zusätzliche Mechanismen der Rückkoppelung an politische Gremien des Landtags erübrigen. Die Verwaltungsaufgaben zu Volksabstimmungen zu Themen von Landesinteresse sowie zu den auf dieser Ebene angesiedelten Bürgerräten sollten einer Verwaltungsstruktur des Landtags zugeordnet werden. Auf der Baustelle Demokratieförderung, so ein kurzes Zwischenfazit, werden die Kräne noch länger stehen.
Ein sehr profunder Beitrag,
Ein sehr profunder Beitrag, Karl, ich wünschte, du hättest ihn v o r der Volksabstimmung vom 29.5.2022 geschrieben, noch besser vor der Verabschiedung jenes unseligen Landesgesetzes durch SVP und Lega, das die direkte Demokratie in Südtirol beschneiden wollte und soeben gekippt worden ist. Vielleicht hätten die SVP-Granden deine Stimme auch entsprechend ernst genommen.
Eine neue "grundsätzliche Diskussion"? Nein, jetzt alle Fragen zur direkten Demokratie wieder neu aufrollen nach 20 Jahren Hin und Her ist doch unsinnig. Jetzt bzw. gleich zu Beginn der nächsten Legislatur geht es darum, das geltende L.G. Nr.22/2018 umzusetzen und mit Leben zu füllen. Das liegt übrigens auch bei den Südtiroler selbst, diese Instrumente endlich mal zu nutzen.
Die Geringschätzung der direkten Demokratie erfolgt übrigens nicht durch die "Verantwortungsträger*innen", sondern - lieber Klartext, Karl - durch die SVP und ihre Wasserträger.
Durch mehr direkte Demokratie wird das demokratische System gestärkt, die Demokratie wird repräsentativer, weniger elitär und lobbybestimmt. Nur: die alten elitären Vorstellungen der alten dominanten Parteien bremsen das her. Deine Forderungen sind an jene Adresse zu richten.
Es geht übrigens nicht um "einen radikalen Systemwechsel". Die Grundelemente der direkten Demokratie nach Schweizer Muster sind in der italienischen Rechtsordnung einführbar (auf Staatsebene allerdings nur mit Verfassungsänderung). Das hat die Nicht-Anfechtung des L.G. Nr.22/2018 seitens Rom bewiesen. Nur muss man das auch anwenden.
Die zu geringe Rolle des Landtags im Gesetzgebungsverfahren, der Bürgerrat und weitere Verfahren der Bürgerbeteiligung verdienen eine getrennte Betrachtung. Du hast in diesem Beitrag etwas viel Kastanien ins Feuer gelegt, doch allesamt sind eine breitere Diskussion wert. Schaffen wir die Gelegenheit dafür.
In reply to Ein sehr profunder Beitrag, by Thomas Benedikter
In der Diskussion über die
In der Diskussion über die Verbesserung der Beteiligungsinstrumente gilt es, auf der Sachebene einen breiten Konsens zu den Zielen anzustreben und die Verfahren damit in Einklang zu bringen. Pilotprojekte zum Bürgerrat können lanciert werden ohne das starre Regelwerk des LG 22/2018 anzuwenden und unter Berücksichtigung vielfältigerer Prozessarchitekturen das Potenzial der Mitsprache für die Demokratie nachvollziehbar machen. Bei der Bürgerbeteiligung muss generell das Image korrigiert werden, dass es sich immer um komplizierte und aufwändige Verfahren mit ungewissem Nutzen für die Allgemeinheit und ohne Gewähr der Umsetzung der Ergebnisse handelt.
In reply to In der Diskussion über die by Karl Gudauner
Lieber Karl,
Lieber Karl,
dieser Dein Beitrag zur Verbesserung unserer Demokratie bleibt jedenfalls eine hervorragende Hilfe für weitere Verbesserungen. Dankeschön !!