Society | Medizinkritik

Gesundheitsstatistiken machen krank

Wie sich die moderne Medizin nicht mehr um Krankheiten, sondern um die Gesundheit des Menschen sorgt und wie der Arztbesucher in den Statistiken als Risikofall klassifiziert wird. Ein Interview mit Barbara Duden.
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Foto: Privat

Die Aussage „Gesundheit, nein danke“ war das Motto für einen Vortrag, den Sie im Rahmen der Euromeditteranea diese Woche in Bozen gehalten haben. Was ist so provokant an diesem Titel?

Barbara Duden: Gesundheit ist ein gesellschaftlich positives Gut, ein Gut, das intuitiv alle wollen – ich beziehe mich dabei auf den Theologen und Systemkritiker Ivan Illich, der in seiner Abfolge von Ausätzen zwischen 1976 und 2000 gezeigt hat, wie die Medizin die Gesundheit nach und nach neu definiert hat. Wir können bei Illich sehen, wie die Industriegesellschaft anfängt, Befindlichkeiten und Praktiken in den Bereich der Medizin überzuführen, nämlich die Geburt, die Schwangerschaft, das Erziehen von Kleinkindern, das Alter und vor allem den Tod. Die Medizin hat körperbezogene Bereiche beansprucht und neu definiert, die vorher gar nichts mit Medizin zu tun hatten. Das wussten die Leute selber. Ivan Illich ist dann noch weiter gegangen und entwickelte das Prinzip der Kontraproduktivität, wenn etwa über die Zwangsbeschulung das neugierige, selbsttätige Lernen unterbunden wird, wenn durch den Verkehr, der Beschleunigung versprechen soll, es tatsächlich zu Staus und Chaos kommt, und wenn die Medizin diese tiefe Abhängigkeit von ärztlich-pharmazeutischen Diensten in Bereichen erzeugt, wo die Leute früher selber wussten, was zu tun ist.

Wann hat dieses Phänomen denn eingesetzt, dass eben Kontraproduktivitäten enstehen, wo man es nicht möchte?

Das kann  man geschichtlich sehr genau feststellen, das begann in den Fortschrittsdekaden der 1960er und 1970er Jahre; so wie die Drittweltländer entwickelt werden mussten, genauso haben auch wir in den Industriegesellschaften das Entstehen eines medizinisch-pharmazeutisch- institutionellen Verwaltungskomplexes vorangetrieben.

Gesundheit und Hygiene sind schon lange Staatsdomänen. Es ist wohl nicht schlecht, wenn sich ein Staat um die Gesundheit seiner Bürger kümmert…

Diese Lehre der Gesundheit im Rahmen von public health gibt es schon länger, eigentlich das ganze 20. Jahrhundert hindurch; was neu ist, ist dass der Staat in das persönliche, private Handeln eindringt. So wurde eine Kultur des autonomen Handelns durch eine Situation ersetzt, in der die Professionellen einem dauernd dreinreden. In den 1980er Jahren entstand der Begriff der systemischen Gesundheit, als es darum ging, die Leute ökonomisch berechenbar zu machen und die Kosten zu kalkulieren. In den 90er Jahren gab es eine ganz neue Situation, als ein Begriff in den Bereich der Medizin einverleibt wurde, den es bis dahin dort nicht gab, nämlich das Risiko; ein Begriff aus dem Versicherungswesen, wo es darum geht, auf eine spezifische Weise Ungewissheit zu kalkulieren. Wie also das Risiko in die Selbstwahrnehmung von uns allen und in die Frage, was soll ich tun, eindringt, untersuche ich in meinen Studien. Da sich das Risiko immer auf die Zukunft, auf ein Kalkül in der Zukunft bezieht, eröffnet sich hier ein riesiger lukrativer Markt im Gesundheitswesen.

Barbara Duden (*1942 in Greifswald) ist eine deutsche Historikerin, Soziologin und Medizinhistorikerin. Sie ist eine Pionierin der Körpergeschichte. Lebens- und Denkgefährtin von Ivan Illich. Sie promovierte 1986 in Berlin mit einer Dissertation zum Thema "Geschichte unter der Haut: Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730". 

Von 1986 bis 1990 lehrte sie an verschiedenen Universitäten in den USA. Anschließend war sie am Institut für Empirische Kulturwissenschaft in Hannover tätig. 1993 habilitierte sie sich mit einer Arbeit über grafische Darstellungen des Ungeborenen zwischen 1492 und 1799 in anatomischen Atlanten. Seit 1997 lehrt sie am Institut für Soziologie und Sozialpsychologie der Universität Hannover.

Das Risiko im Gesundheitswesen, was ist darunter zu verstehen?

Sie werden es heute kaum mehr mit einem Arzt zu tun haben, der tatsächlich einen spontanen ärztlichen Rat gibt, sondern die Ärzte sind Vermittler geworden zwischen dem, was die Statistik hergibt, und wie ein gewisses Medikament und ein Zustand zu vereinbaren sind. Wenn Sie Sorge haben, Krebs zu kriegen, dann sagte der Arzt früher, jetzt schauen wir erstmal, was geschieht, bevor wir uns Sorgen machen. Heute haben wir die Prüfung nach Alterskohorten und den Versuch, immer früher zu erkennen und zwar bevor sich etwas zeigt.

Mich interessiert das Risiko körpergeschichtlich, weil man es nicht konkret im Körper feststellen kann, sondern es sich nur auf eine statistische Population bezieht. Das Interessante ist, warum es trotzdem so wirksam ist, dass die Patientin denkt, es ginge um eine Diagnose, um eine wirkliche Ursache. Tatsächlich beziehen sich die Informationen, die der Arzt mitteilen kann, nicht auf sie, sondern auf eine statistische Gruppe, es geht nicht um ihre Zukunft, sondern es geht um die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von X. Was geschieht also, nachdem der Arzt diese nicht konkrete Information an die Klientin/Patientin weitergegeben hat? Sie steht nun da mit dieser Wahrscheinlichkeitsdiagnose und muss eine Entscheidung treffen.

Dazu fällt mir das Beispiel Angelina Jolie ein, die aufgrund einer Wahrscheinlichkeit an Brustkrebs zu erkranken, sich beide Brüste abnehmen ließ. Ist es das, was Sie meinen?

Ja, die Frage ist, ob sie dieses Ereignis, also den Brustkrebs, wirklich zu erwarten hat. Niemand weiß das. Für mich ist es sehr wichtig, deutlich zwischen einer Gefahr und einem Risiko zu unterscheiden. Dass tatsächlich ein Symptom vorliegt, dass ich in meinem Körper etwas erkennen kann. Die Wahrscheinlichtkeitsberechnung allein gibt keinen Anlass für ein Handeln. In den USA gibt es sehr viele Frauen, die so klassifiziert werden, die das sogenannte Brustkrebsgen tragen und die sich daraufhin die Brust abnehmen lassen. Dabei geht es aber immer nur um eine erhöhte Möglichkeit, daran zu erkranken, die Leute hingegen denken, dass es wie eine Diagnose ist. Wie soll ich aber mit einer Prophezie umgehen, die ich im Körper gar nicht festmachen kann. Ich finde das unwahrscheinlich brutal…

Da hat man Glück, wenn man ein zuversichtlicher Mensch ist und sich nicht einschüchtern lässt von möglichen Erkrankungen, die einen statistisch gesehen treffen können..

Angelina Jolie hat hier eine enorme Botschaft in die Welt gesetzt, indem sie den Denkzwang aufstellt, dass es so etwas gibt, wie ein Gen für Brustkrebs. Das gibt es nicht, die Statistiken sagen lediglich, dass eine erhöhte Wahrscheinlichkeit da ist. Und es gibt dazu sowieso einen großen Streit, wie diese Statistiken zustande kommen. Bei Angelina Jolie, deren Mutter krank ist und auch die Großmutter, kann man schon sehr besorgt sein, aber dass das ein Grund ist, sich die gesunden Brüste abzuschneiden, erscheint mir völlig irrsinnig. Außerdem wird der Krebs so nochmal richtig dämonisiert, dabei gibt es so viele verschiedene Formen dieser Krankheit. Alle diese Zustände, die etwas ungewiss sind, werden von den Gesundheitsstatistikern gnadenlos vereinnahmt.

Muss ich also der heutigen Medizin ausweichen, um gesund zu bleiben?

Die Schwierigkeit heute ist, dass das Medizinsystem und das Krankenhaus unter einen enormen Ökonomisierungsdruck geraten sind und dass die Ärzte nicht mehr in Ruhe praktizieren können. Die Medizin arbeitet heute mit einer eklatanten Überdiagnostik, es werden Batterien von Tests gemacht, die Therapien sind dadurch aber nicht besser geworden. Diese Diagnosen stigmatisieren aber auch. Wenn man jemanden ganz früh unter den Verdacht eines Risikos stellt, dann wird die Person davon beeinflusst. Was Klienten/Patienten vor allem brauchen, ist, dass ihnen jemand vorsichtig zuhört. Die Krankenkassen zahlen für das Anhören eines Patienten so wenig, sondern sie zahlen für den Einsatz von Maschinen. Diese Kassen und Versicherungen vertreten die Interessen der Technologien und der Pharmaindustrie und nicht die Interessen der Versicherten, der Bürger. Das ist ein Skandal.

Ich möchte einen Arzt, der zuhört und den Patienten, die Patientin berührt, ein Verständnis entwickelt davon, was dessen Krankheit sei und nicht nur einen isolierten Ausschnitt dieses Menschen klassifiziert und dann als Standard verschreibt, was in solchen Fällen vorgesehen ist. Solche Ärzte vermeide ich, deren Verhalten halte ich für scheußlich, übergriffig und gefährlich.

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Frank Blumtritt Sun, 07/07/2013 - 13:15

ich fürchte, da musst du nicht bis Australien schauen! Ich weiß, dass auch Südtirols Gesundheitspolitik zu einem guten Teil von den persönlichen Erfahrungen der Spitzenpolitiker geprägt ist... manchmal ist das ja gut, manchmal schafft es aber auch viele Probleme. Wie ich in meinem Kommentar auf deine Frage im Homöopathie-Blog, was ich als Landesrat tun würde, bereits geschrieben habe, sollten Politiker die Gesundheitssysteme, sich auf objektive internationale und lokale Daten stützend, planen, diese an Experten delegieren und sich dann für den Rest der Legislatur ausblenden. Aber so ist es wohl in den wenigsten Ländern...

Sun, 07/07/2013 - 13:15 Permalink