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"Ich habe kein Kreuz mit dem Kreuz"

"Dem Kreuz entgeht niemand", sagt der Theologe und Prodekan der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen Don Paolo Renner. Über Moscheen, Sushi und eigene Wurzeln.
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Foto: Parrocchie della Paganella

Herr Renner, hängt in ihrem Arbeitszimmer ein Kreuz?
Paolo Renner: Ja, hier hängen so viele, dass ich es gar nicht schaffe, sie so schnell zusammenzuzählen. Zumindest drei oder vier sind es zumindest, dann habe ich noch ein Kreuz am Hals und eines an der Jacke, und wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich auf der Radlseespitze auch eines. Ich habe also kein Kreuz mit dem Kreuz. Es ist für mich vielmehr ein wichtiges Symbol, über das ich vor Jahren sogar ein Buch geschrieben: der Schatz des Kreuzes.

Und dieser Schatz hat einen wichtigen Stellenwert in Ihrem Leben? 
In meinem Leben und im Leben aller Menschen. Ich würde sagen, dem Kreuz entgeht niemand. Dem Kreuz begegnen wir alle im übertragenen Sinne, nicht dem christlichen Kreuz, sondern dem Kreuz des Lebens.

Was verstehen Sie darunter?
Schwierigkeiten, Krankheiten, Arbeitslosigkeit, Krieg, die wachsende Migrantenzahl. All das stellt ein Kreuz dar, eine Herausforderung. Das Kreuz steht aber auch für die Kreuzung, also die Begegnung. Und wir wissen, dass jede Begegnung einerseits ein Grund zu Freude sein kann, manchmal aber Spannungen, Reibereien und Schwierigkeiten bringt, also ebenfalls eine Herausforderung.

Und was konkret bringt uns diese Symbolik in unserem täglichen Leben?
Sie erinnert mich zum Beispiel daran, dass Leiden zwar nicht angenehm ist, aber es oft gelingt, Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen, wenn man gelitten hat. Oder dass jene Menschen, die das Kreuz würdevoll tragen, das Kreuz des täglichen Lebens, des Zusammenlebens, der Pflichterfüllung und so weiter, dass diese Menschen zum Licht finden. Wir sehen das auch schon bei unseren Kindern, die heute oft sehr verwöhnt sind, denen wir jedes Kreuz ersparen wollen. Doch Kinder, die keine Schwierigkeiten oder Herausforderungen meistern müssen, sind schwächer als andere, die sich bemühen und einbringen müssen.

Das ist eine schöne Überleitung zum brandheißen Thema dieser Tage: Ist es deshalb auch notwendig und wichtig, das Kinder das Kreuz in Schulklasse vor sich haben?
Notwendig ist es nicht, wichtig ist es schon. Vor Jahren hat der Staatsrat bereits festgelegt, dass das Kreuz nicht nur ein religiöser Gegenstand ist, sondern in der Klasse hängt, weil es Symbol für die Werte ist, mit denen sich unsere Kultur identifiziert. Ob Mitleid, Gerechtigkeit oder die Würde des Menschen.

"...Dann sollte die liebe Brigitte auch anfangen, Chinesisch zu reden. Wir sind in einer Tradition verwurzelt, und wenn diese Wurzeln wegbleiben, dann weht es uns nur mehr haltlos hin und her."

Doch ist das den Schülerinnen und Schülern auch bewusst?
Wenn die Kinder auf den Gekreuzigten schauen, fragen sie sich automatisch, warum so was passieren konnte, und wir schulden ihnen eine Antwort darauf. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir ihnen in dem Zusammenhang auch sagen, wie viele Menschen heute noch symbolisch am Kreuz hängen, wie viele Menschen vor den Grenzen Europas warten müssen auf eine würdige Aufnahme, wie viele unter Krieg und Naturkatastrophen leiden. Ich weiß schon, dass das Kreuz unappetitlich ist. Deswegen feiern die Menschen lieber Weihnachten, wo ein putziges Kind geboren wird, als Ostern, wo ein gerechter Mensch auf brutale Weise hingerichtet wird. Doch genau das passiert heute immer noch. Immer wieder müssen unschuldige und gerechte Menschen leiden, unter der planetarischen Ungerechtigkeit oder wie Papst Franziskus sagen würde, unter der Globalisierung der Gleichgültigkeit. Es gibt so viele Gekreuzigte auf der Welt, und der Gekreuzigte, den wir hängen haben, sagt uns:  Besinnt euch, es geht nicht allen so gut wie euch.

Viele Menschen und vor allem viele der Menschen, denen es nicht so geht wie uns und die anderen Religionen angehören, haben aber keinen Bezug bzw. sogar negative Assoziationen mit dem Kreuz. Können Sie deshalb verstehen, wenn die Grüne Landtagsabgeordnete Brigitte Foppa zur Kreuzen in Klassenzimmern sagt: Entweder haben in einem laizistischen Staat alle Religionen Platz oder keine?
Nein, denn dann sollte die liebe Brigitte auch anfangen, Chinesisch zu reden. Ich glaube, wir sind in einer Tradition verwurzelt, und wenn diese Wurzeln wegbleiben, dann weht es uns nur mehr haltlos hin und her. Ich finde es wichtig, dass wir mit unserer Tradition auf intelligente Weise verbunden bleiben. Das heißt nicht, dass wir alles bewahren müssen oder dass eine Frau Foppa zu einer Prozession am Karfreitag gezwungen werden sollte. Doch dass in den Klassenzimmern das Kreuz als Symbol erhalten bleibt, das an die Werte unserer Kultur erinnert, ist wichtig.

Auch wenn in einer Klasse mehr als die Hälfte der Kinder einen anderen Glauben haben?
Ja.  Und sollte zum Beispiel ein Moslem ein Problem damit haben, sollten wir antworten: Bei uns ist das so üblich, bei Euch müssen dagegen zum Beispiel auch die Touristinnen einen Schleier tragen. Bei uns zwingen wir Euch nicht das Kreuz zu küssen, aber Ihr könnte seinen Anblick ertragen, wenn Ihr hier arbeiten oder zur Schule gehen wollt. Was in einem Land Tradition ist, muss nicht abgeschafft werden, nur weil neue Bürger kommen, für die das nicht ganz kompatibel ist. Sonst müssen wir irgendwann auch auf andere Traditionen, auf unsere Sprache, auf unsere Kunst verzichten. Und Globalisierung bedeutet nicht nivellieren. Man muss aber auch sagen, dass es nicht die Moslems sind, die das größte Ärgernis mit dem Kreuz haben, sondern unsere Laizisten. Die Moslems können schon mit dem Kreuz leben, auch wenn Jesus laut dem Koran nicht am Kreuz gestorben ist.

Doch es gibt eben auch bei uns genügend Menschen, die sich zum Beispiel fragen, was ein Kreuz in einem laizistischen Staat in einem Gerichtssaal verloren hat....
Wenn man dort auf das Kreuz schauen würde, hätte es sehr wohl eine Bedeutung. Als Mahnung für die Menschen, die dort streiten, für die Anwälte und oft auch die Richter. Religion ist absolut keine Privatsache, wie manche zu Unrecht behaupten, Religion ist eine öffentliche Angelegenheit, man bekennt sich zu ihr.

Sagen Sie damit, dass sich neue Bürger auch in religiöser Hinsicht an die Mehrheitsgesellschaft anzupassen haben oder hat mehreres nebeneinander Platz?
Ein Nebeneinander ist etwas ganz anderes als die Abschaffung des Eigenen. Ich bin zum Beispiel dafür, dass Moscheen gebaut werden, ich bin auch der beste Freund vom Imam und begleite viele islamische Jugendliche, die Glaubenszweifel haben, weil ich den Koran sehr gut kenne und das gerne mache.

Auch Bischof Muser sagt: Gestehen wir einander doch die religiösen Symbole zu. Hat die lokale Kirche also auch kein Problem mit Minaretten oder Burka?
Ich habe in jedem Fall kein Problem damit, dass diese neuen Bürger ihre Sprache sprechen, dass sie uns Sushi gebracht haben und viele andere Dinge.

Sushi ist eine Sache, Burka oder Minarett schon ein wenig  heikler ..
Kebab stinkt mehr als ein Minarett und auch Sushi schmeckt nicht allen Menschen. Wir leben heute nun einmal in einer multikulturellen Gesellschaft, nun geht es darum, eine interkulturelle zu schaffen. Aber nicht, indem man existierende Dinge bekämpft,  löscht oder zerstört, sondern indem man sie ins Gespräch bringt. Erklären wir den Moslems und allen anderen, was das Kreuz am Gericht bedeutet. Genauso wie wir erklären müssen, was das Siegesdenkmal bedeutet oder das Relief mit Mussoloini am Gerichtsplatz.

"Ich weiß schon, dass das Kreuz unappetitlich ist. Deswegen feiern die Menschen lieber Weihnachten, wo ein putziges Kind geboren wird, als Ostern, wo ein gerechter Mensch auf brutale Weise hingerichtet wird."

In der aktuellen Diskussion scheinen gerade die Verteidiger des Kreuzes jedoch nicht viele von den Botschaften verstanden zu haben, die Sie mit diesem Symbol verbinden. Sind Hass- und Drohbotschaften, die vor allem Brigitte Foppa über die Sozialen Medien erhielt, zur Verteidigung der eigenen Tradition gerechtfertigt?
Hier geht es zumindest zum Teil um verständliche Reaktionen darauf, dass etwas Heiliges verletzt wurde. Meinen Sie die Leute von Charlie Hebdo arbeiten auf eine saubere Weise, indem sie sich allerlei erlauben? Die wecken Zorn, provozieren heftige Reaktionen. Ich würde nie einem Kind seine Puppe ins Wasser schmeißen und sagen, das ist eine dreckige Puppe, wenn ich weiß, dass die Puppe für das Kind heilig ist. Und genauso sollten auch Symbole, die den Menschen heilig sind, respektiert werden.

Doch aus vielen solcher Kommentare spricht auch ein Fremdenhass oder zumindest die Angst vor dem Fremden, gegen das man die eigenen religiösen Symbole wie ein Schwert erhebt. Ein neues Potential für die Kirche, die viel an Terrain verloren hat in den vergangenen Jahrzehnten?
Also, wir in der Kirche predigen weder Hass noch Angst. Wir haben so viele Kontakte mit Moslems, mit Buddhisten und Angehörigen anderer Religionen. Ich halte auch viele Vorträge über den Islam, lehre meinen Studenten viel darüber. Die Religionen pflegen den Dialog. Wer ihn nicht pflegt, ist kein legitimer Vertreter der Religion.

Doch in der gesamten Menschheitsgeschichte haben Menschen sich wegen unterschiedlicher Religionen den Kopf eingeschlagen. Warum bedroht ein anderer Glaube so sehr, warum rufen Diskussionen über religiöse Symbole so emotionale Reaktionen hervor?
Was uns wirklich bedroht, ist das Symbol des Dollars oder des Euro. Natürlich hat es Religionskriege gegeben, das ist nicht zu leugnen. Doch heutzutage gibt es ganz andere Feinde des Menschen, die Multinationalen, bestimmte Banken, die auch der Papst in der letzten Enzyklika ganz deutlich kritisiert hat... Die schlimmste Gottheit, die heute im Umlauf ist, ist der Gott Geld. Der ist zur Zeit dabei, die Welt zu zerstören, und dagegen wehren sich die Religionen.