Die Gärten der Finzi - Teil 1
Leningrad 1976
In der Wartehalle des Flughafens von Fiumicino lagert eine bunte Reisegruppe. Es sind ungefähr zwanzig Personen verschiedenen Alters, Männer, Frauen, auch einige Jugendliche. Sie sprechen italienisch. Alle reden laut durcheinander, sie sind leger gekleidet, viele tragen ein Palästinensertuch um den Hals geschlungen, ein quadratisches Tuch mit gleichmäßig schwarz weiß gewürfeltem Muster. Seit den 68-er Jahren gilt das Tuch als ein Zeichen der Solidarität mit der palästinensischen Befreiungsbewegung, aber es ist auch Ausdruck der persönlichen Zugehörigkeit zum linken Lager oder zur alternativen Szene. Der Flug nach Moskau hat 3 Stunden Verspätung.
Micòl Finzi Contini gehört zu der Reisegruppe. Es ist Mai. Gerade hat sich die Nachricht verbreitet, dass Ulrike Meinhof im Stuttgarter Gefängnis Stammheim Selbstmord begangen haben soll. Micòl, 54 Jahre alt, noch immer von dieser filigranen Statur mit weißen Strähnen im blonden dichten Haar, ist mit Mitgliedern der CGIL unterwegs, der mächtigsten Gewerkschaft im Italien der siebziger Jahre. Ein Teil der Reisegruppe besteht zudem aus führenden Kräften des PDSI, der sozialdemokratischen Partei Italiens. Vier von ihnen tragen den Namen Longo.
Micòl, als Friedensaktivistin unterwegs in der Welt seit den sechziger Jahren, ist vernetzt mit vielen politischen Gruppierungen, auch mit den alternativen Szenen, die sich gebildet haben. Die Reise in die Sowjetunion, ins Herz des Breschnew Kommunismus, ist ihr ein großes Anliegen. Sie will vor Ort sehen, was Sache ist. Darüber nachgedacht habe ich lange genug, sagt sich Micòl Finzi Contini. Wenn sie mit diesen Leuten in die Sowjetunion reist, wird sie mehr zu sehen bekommen als eine einfache Touristin zu sehen bekäme, glaubt sie.
Als sie das Flugzeug verlassen, sowjetischen Boden betreten, sieht Micòl Finzi Contini mit Befremden, dass viele Mitglieder ihrer Reisegruppe niederknien und diesen Boden küssen. Es ist nicht so, dass sie selbst keine Erwartungen gehegt hätte in Hinsicht auf einen Kommunismus, der möglicherweise Gerechtigkeit einrichten könnte auf diesem untergehenden Planeten. Oft hat sie ihrer Freundin, der Füchsin, erzählt von den kommunistischen Experimenten in Südindien, in Kerala, wo sie mit Genugtuung festgestellt hat, wie das Land aufgeteilt wurde und die Bauern gemeinsam die Felder bestellten, jene Reisfelder, die sie zusammen mit dem Kashmiri gesehen hat. Von ihm habe ich ihr nichts erzählt, sagt sie sich. Aber die Geschichte mit ihm gehört möglicherweise auch zu einer Art kommunistischem Experiment oder zu einem rinascimento, wer weiß, nichts ist so endgültig, wie wir es gerne hätten. Micòl denkt es mit einem Lächeln.
Sie sitzt in einem modernen Reisebus, der die Gruppe in ihr Hotel in Moskau bringt. Die Leute kennen einander sehr gut. Micól ist eher ein Fremdkörper. Sie hat viel Zeit zum Denken während der Fahrt.
Was in Italien im gegenwärtigen historischen Moment passierte, aber auch in anderen europäischen Ländern, dieser Selbst-Versuch des sogenannten Eurokommunismus, daran nahm Micòl regen Anteil. Vor allem der Mann, der in Italien den Partito Comunista Italiano anführte, den alle einen Mönch nannten, Enrico Berlinguer, er interessierte Micòl Finzi Contini brennend.
Enrico Berlinguer ist einer von den Männern, deren Schweigekunst die Menschen betört. Kein Wort zu viel zu sagen, ist in der Tat eine Kunst. Dieser geheimnisvolle Schweiger, der asketische Chef des Partito Comunista Italiano, wird im Jahr 1976 zum Mann des Jahres gewählt. Im selben Jahr wird er nach einer Meinungsumfrage als der beliebteste und angesehenste Politiker des Landes bezeichnet.
In den hohlen Formen ihrer Stummheit wohnt ihr Geheimnis. Wer könnte das besser wissen als Micòl Finzi Contini, groß geworden im Schweigen der Gärten, zurückgekehrt aus verschwiegenen Todeslagern? Wer könnte es besser wissen? Und sie denkt sehr lange darüber nach, warum sie, ein Großteil der Italiener, gerade diesen Mann verehren, wo sie sonst nichts Positives zu sehen imstande sind an ihrem Land, an dessen Politik und gesellschaftlichen Zuständen. Diesen Eindruck hatte sie gewonnen in den langen Jahren der Abwesenheit.
Dieser Chef einer kommunistischen Partei, ist im offiziellen italienischen Adelsbuch als Don Berlinguer eingetragen. Ist ein Aristokrat. Aber mit der Muttermilch eingesogen hat Enrico Berlinguer das Beste, was die liberale Kultur Italiens zu bieten hatte. Der Antifaschismus seines Anwalt-Vaters, dessen Demütigungen durch die faschistischen Proleten, haben dann wohl den jungen Enrico, aufgewachsen im Sassari der zwanziger Jahre, zu dem gemacht, was er wurde: ein Idol mit geheimnisvoll kommunistischer Aura.
Der Adel und die Utopie von einer kommunistischen Utopie sind schon lange miteinander verwandt. Auch das weiß die jüdische Prinzessin Micòl Finzi Contini.
Teil 2 und 3 der Erzählung folgen in den nächsten Tagen