Society | Gastbeitrag von Peter Hilpold

Die regionale Dimension

Teil 2 des Vortrags von Universitätsprofessor Peter Hilpold, der anlässlich der Tagung auf Schloss Prösels der Frage nachging, wie die europäische Finanzkrise unter Berücksichtigung der regionalen Dimension zu bewältigen ist.

Die offenen Fragen 

Zweifelsohne wurde die akute Krise abgewendet und das System der EWWU hat in den letzten vier Jahren mit den beschriebenen Reformmaßnahmen einen grundlegenden Gestaltwandel erfahren. 

Ist die Krise damit aber definitiv gelöst? Diese Frage wird in Fachkreisen überwiegend mit Nein beantwortet. Die Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise hat die Schuldenstände weiter nach oben getrieben, die Politik des „lockeren Geldes“ neue Spekulationsblasen geschaffen. Die Schuldenlast mehrerer EU-MS ist möglicherweise nicht tragfähig. Auch in Bezug auf Italien sind entsprechende Befürchtungen – auch aufgrund der niedrigen Wachstumsraten – gerade letzthin geäußert worden. Es ist ganz klar, dass der Reformweg weiter beschritten werden muss, wobei für einige die EU allerdings schon viel zu sehr eine „Solidarunion“ geworden sei. Damit wird es erforderlich, ein paar Überlegungen zur Rolle des Solidaritätsprinzips in der EU anzustellen. Die Verträge nehmen an zahlreichen Stellen direkt oder indirekt auf dieses Prinzip Bezug. Was bedeutet aber „Solidarität“? Es handelt sich hierbei, wie Josef Isensee treffend formuliert hat, um einen Blankettbegriff (Vgl. J. Isensee, Solidarität – sozialethische Substanz eines Blankettbegriffs, in: ders., Solidarität in Knappheit – Zum Problem der Priorität, 1998, S. 97-141), der vielfältig deutbar ist. 

Bedeutet Solidarität uneigennützige Nächstenliebe, die das irdische Leid der Solidaritätsempfänger lindert, dem Seelenheil der Geber zuträglich ist, darüber hinaus aber den Bestand der EU gefährdet, da sie negative Leistungsanreize setzt? Ein solches Verständnis von Solidarität wäre verfehlt; es entspricht nicht dem Solidaritätsgedanken, auf welchem die EU gründet.  Schon vor geraumer Zeit hat Josef Isensee nämlich sehr treffend festgestellt, dass Nächstenliebe schlechthin altruistisch sei, Solidarität hingegen ihrer Tendenz nach utilitaristisch: (Vgl. J. Isensee, (Fn 3), S. 103) „Sie verknüpft Einzelinteressen und Gesamtinteresse und kalkuliert Kosten und Nutzen, wobei das Kalkül ökonomisch, politisch oder moralisch ausfallen mag. Solidarität rechnet mit Solidarität. Nächstenliebe aber rechnet nicht.“ (Ibid) 

Die Rettungsaktionen zugunsten Griechenlands und der übrigen akut gefährdeten Euro-Staaten hatten deshalb mit uneigennütziger Freigebigkeit oder gar Nächstenliebe wenig zu tun. Deutschland und die übrigen Geberländer retteten sich vielmehr selbst. (Die vielfach vorgetragene Behauptung, die Hilfsmaßnahmen zugunsten Griechenlands, Portugals und Irlands hätten gegen Art. 125 AEUV verstoßen, waren damit eindeutig verfehlt, wie auch Ulrich Häde klar festhält: „Diese Hilfsmaßnahmen zielen nämlich gerade nicht auf Solidarität mit den bedrohten Mitgliedstaaten, sondern auf den Schutz der handelnden Mitgliedstaaten selbst.“ Vgl. U. Häde, Rechtliche Bewertung der Maßnahmen im Hinblick auf eine „Fiskalunion“, in: Ch. Calliess (Hrsg.), Europäische Solidarität und nationale Identität, 2013, S. 193-206 (204).  

Die Lehman-Krise hatte gezeigt, welche Konsequenzen der Ausfall systemrelevanter Einheiten haben kann. Ebenso wenig war der in vielen Euro-Staaten so umstrittene ESM Ausdruck von Nächstenliebe. Er schaffte vielmehr einen Versicherungsmechanismus, der das dem jetzigen Euro-System innewohnende, zweifelsohne sehr hohe Ausfallrisiko auf viele Staaten streut und damit bis zu einem bestimmten Punkt berechenbar macht. Diese berechnende, letztlich auf dem Reziprozitätsprinzip beruhende Solidarität ist im Übrigen dem EU-Recht schon lange eigen: Die gesamte Regionalpolitik beruht darauf.  

Die Rolle des Regionalismus 

Welche Rolle spielt nun der Regionalismus für die hier gewählte Thematik? Eine viel bedeutendere als man auf den ersten Blick vermuten möchte. Da wären einmal die Strukturfonds der EU zu erwähnen: der Europäische Sozialfonds (ESF), der Europäische 
Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) und der Kohäsionsfonds, mit welchen die EU seit Jahren eine umfassende Kohäsionspolitik betreibt. Obwohl von Anfang an alle MS von diesen Maßnahmen profitierten, floss doch der Großteil der Mittel in ärmere MS, wodurch de facto eine unionsweite Umverteilung realisiert wurde. (Vgl. A. Puttler, Solidarität als Finanzausgleich? Die europäische Kohäsionspolitik, in: S. Kadelbach (Hrsg.), Solidarität als Europäisches Rechtsprinzip?, 2014, S. 43-57 (50))

Die Kohäsionspolitik ist auf massive Kritik gestoßen, war doch damit der Aufbau einer aufgeblähten, kostspieligen Bürokratie 
verbunden und in vielen MS konnten die Strukturmittel nicht genutzt werden, da die aufwändige Antragstellung nicht bewerkstelligt werden konnte. Auch wurde kritisiert, dass die Finanz- und Wirtschaftskrise gerade die Regionen am stärksten getroffen hat, die zuvor die höchste Förderung bezogen hatte (Zu diesen Kritikpunkten siehe D. Adamski, Europe´s (Misguided) Constitution of Economic Prosperity, in: 50 CMLR 2013, S. 47-86) und es sind Zweifel angemeldet worden, ob angesichts der vielen Unzulänglichkeiten dieses Systems darin überhaupt ein Ausdruck von Solidarität zu sehen sei. (Vgl. A. Puttler, (Fn 7), S. 56) Diese Kritik  überzeichnet allerdings: Wenngleich die Kohäsionspolitik sicherlich in vielen Bereichen verbesserungsfähig wäre, so hat sie dennoch vielen Regionen der EU zu Aufschwung oder gar Wohlstand verholfen. Die Grundsätze der „Zusätzlichkeit“ (wonach die Strukturmittel nicht jene der mitgliedstaatlichen Ebene substituieren dürfen) und der Kofinanzierung (wonach die EU nur eine Teilfinanzierung gewährt) mögen erheblichen Verwaltungsaufwand schaffen und in einigen Fällen die Projektfinanzierung überhaupt zu Fall bringen (hier liegt die Schuld aber überwiegend auf mitgliedstaatlicher Ebene). Damit wird gleichzeitig aber auch wesentlichen Anforderungen des Solidaritätsprinzips entsprochen, wonach Solidarität eben nicht in uneingeschränkter Mittelzuwendung bestehen soll, sondern primär Hilfe zur Selbsthilfe darstellen sollte. In Summe sind über die Kohäsionspolitik sicherlich konsistente Mittel von reicheren Staaten in ärmere geflossen, doch ist diese Umverteilung Teil eines breiteren Synallagmas, das wohlhabendere Staaten vom Binnenmarkt in umfassendem, noch weit größerem Maße profitieren lässt. 

Die Diskussion rund um den Stellenwert der Solidarität in der neu gestalteten EWWU berührt das Thema des Regionalismus aber noch in einem weiteren Sinne: Die Erkenntnisse, die aus der Auseinandersetzung rund um die Rolle der Solidarität in der EWWU gewonnen wurden, können fruchtbar auch auf die innerstaatliche Regionalismusdebatte übertragen werden. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat viele europäische Regierungen dazu bewogen, die intraregionale Umverteilung im Namen der Solidarität zu forcieren. Dagegen ist nichts Grundsätzliches einzuwenden: Der Gesellschaftsvertrag in einem Staatswesen fordert sicherlich noch weit mehr Solidarität  zwischen den einzelnen Regionen ein als dies im Verhältnis zwischen den einzelnen MS der Fall ist.

Auch hier gilt aber: Solidarität kann nicht auf Dauer in einseitiger Form eingefordert werden. Der Mitteltransfer von den reicheren zu den ärmeren Regionen muss Teil eines größeren Ausgleichs sein oder aber mit der Perspektive auf Gegenseitigkeit gleich einem Versicherungsvertrag verbunden sein. Dies ergibt sich nicht nur aus der Perspektive der Fairness und der Zumutbarkeit, sondern liegt im Interesse der ärmeren Regionen selbst, die nicht in die Rolle von bloßen Leistungsempfängern gedrängt werden sollen. Solidarität ist Hilfe zur Selbsthilfe und damit notwendigerweise zeitlich befristet. In akuten Notlagen – und eine solche ist durch die Finanz- und Wirtschaftskrise in vielen MS auch tatsächlich ausgelöst worden - ist Solidarität nicht nur ein Gebot der Moral und eine natürliche Folge des Gesellschaftsvertrages, sondern sie wird im Interesse der reicheren Regionen selbst geleistet, da auch und gerade diese von einem prosperierenden Staatswesen als Ganzes profitieren.  Ähnlich wie die Steuerpflicht gemäß dem Leistungsfähigkeitsprinzip beruhen die intraregionale und die mitgliedstaatliche Solidarität somit auf einem Prinzip mit zwei Seiten: Leistung ist gefordert und geschuldet, aber dieser werden auch klare Grenzen gesetzt. Diesen schwierigen Ausgleich gilt es, zwischen den MS und innerhalb der MS zu finden.