Economy | Milchwirtschaft

Langsames Ausbluten

Während die Südtiroler Milchgenossenschaften Optimismus versprühen, bluten die Bergbauern aus. Letzteres ist inzwischen auch in Brüssel Gesprächsthema.
Milch
Foto: Othmar Seehauser
Anfang August hat das Institut für Wirtschaftsforschung der Handelskammer Bozen – WIFO die Sommerausgabe des Wirtschaftsbarometers veröffentlicht. Darin ist von neuem Optimismus zu lesen, mit dem die Molkereien und Sennereien in das laufende Jahr blicken. Gestiegene Verkaufspreise für Milch und der daraus verarbeiteten Produkte, der Rückgang der Energiepreise sind für die Genossenschafts-Vertreter offenbar Grund zur Freude. Die Umsatzdynamik sei positiv, vor allem auf dem Südtiroler Markt und im restlichen Italien, und fast alle Milchgenossenschaften würden für 2023 mit einer, wie es heißt, zumindest zufrieden stellenden Rentabilität rechnen. Von dieser allgemeinen Erholung des Sektors würden auch die Investitionen profitieren, insbesondere was die Anlagen betrifft. Auch die Auszahlungspreise an die Bauern werden laut WIFO in den meisten Fällen gut sein. Also alles in Ordnung – bis auf einzelne Bauern, die bloß rumjammern?
 
 
Auch die Auszahlungspreise an die Bauern werden laut WIFO in den meisten Fällen gut sein.
 
 
Während das Ergebnis dieser Studie bei den Handelspartnern und Konsumenten für Beruhigung sorgen mag, hat sie unter den Milchbauern für erheblichen Unmut gesorgt, wie Markus Hafner, der der selbst einen Bauernhof bewirtschaftet und seit über 20 Jahren als Übersetzer für die Organisation EMB (European Milk Board) tätig ist, berichtet. Die EMB ist die Dachorganisation für rund 100.000 Milcherzeuger aus ganz Europa und setzt sich für einen gerechten Milchpreis und einen fairen Handel ein sowie für eine Abkehr von der planlosen Überproduktion.
 
 
 
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Die Vertreter des European Milk Board (EMB) Markus Hafner, Boris Godouin und Roberto Cavaliere mit EU-Agrarminister Janusz Czesław Wojciechowski (2. v. l.). (Foto: EMB)
 
 
„Ich zweifle die Ergebnisse der Studie in kleinster Weise an, aber die Bauern, die sich an mich wenden, schildern mir eine vollkommen andere Situation. Sie haben den Bericht gelesen und fragen sich, wie das sein kann. Sie sagen mir, dass es ihnen beschissen geht“, redet Hafner Tacheles und berichtet von einer dramatischen Situation: „Der gesamte obere Vinschgau geht einem Debakel entgegen, der Lichtenberger Berg ist entvölkert, die Bergbauern geben reihenweise auf.“ So wird in Langtaufers fast keine Milch mehr produziert, in Planail gibt es noch einen Betrieb, in Plawenn wird mittlerweile offen über Reduzierungen gesprochen.
 
 
Der gesamte obere Vinschgau geht einem Debakel entgegen, der Lichtenberger Berg ist entvölkert, die Bergbauern geben reihenweise auf.
 
 
Dass die Milchproduktion in Südtirol gesunken ist, wurde nicht nur von Georg Egger, Obmann des Sennereiverbandes, auf der Vollversammlung Ende April bestätigt – dabei berichtete er, dass die Anlieferungsmenge um fast fünf Prozent gesunkenen ist –, sondern auch auf verschiedenen anderen Versammlungen zu landwirtschaftlichen Themen wird dieses Problem mittlerweile offen angesprochen. Es kursieren Zahlen, wonach im Vinschgau die Milchproduktion um zehn Prozent zurückgegangen sein soll, im größten Liefergebiet Pustertal um fünf Prozent und aktuelle, inoffizielle Zahlen aus dem Umfeld des Brixner Milchhofes Brimi berichten von einem Minus von 13 Prozent. 160 Milchvieh-Betriebe haben 2022 aufgegeben, damit ist die Zahl auf 4.040 gesunken – zum Vergleich: im Jahr 2003 waren es noch 5.876 Milch-Lieferanten. Dass das Bauernsterben unaufhaltsam weitergehen wird, ist auch den politischen Verantwortlichen klar. Kommt das Thema Berglandwirtschaft unter den Landesräten und Landtagsabgeordneten zur Sprache, so wird ein Rückgang um weitere 2.000 Betriebe, also rund die Hälfte, nicht nur für möglich, sondern für wahrscheinlich gehalten. Eine dramatische Situation, die sich mittlerweile bis zum EU-Agrarminister Janusz Czesław Wojciechowski herumgesprochen hat, berichtet Hafner, der durch den MEB über beste Kontakte nach Brüssel verfügt. So hat vor rund zwei Wochen ein Treffen zwischen dem Präsidenten des MEB, Kjartan Poulsen, seinem Stellvertreter Elmar Hannen und dem EU-Kommissar für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung Wojciechowski stattgefunden, in dem es unter anderem um das Ungleichgewicht auf dem Milch-Markt ging.
 
 
Glückliche Kühe mit Hörnern im hohen Gras
Rinder auf der Alm: Mittlerweile hat sogar die EU verstanden, dass für die Bewirtschaftung der Almen Rinder gebraucht werden. (Foto: Oswald Stimpfl)
 
 
Die EMB-Vertreter betonten dabei die Notwendigkeit, dass die Preise dauerhaft über den Produktionskosten liegen müssen, um die Landwirte in der Produktion zu halten und die junge Generation zu motivieren, in den Beruf einzusteigen. Im Rahmen dieses Gesprächs und vor dem Hintergrund des Green Deal, mit welchem die EU bis 2050 klimaneutral werden will, sei auch die Situation in Südtirol angesprochen worden, berichtet Hannen auf Nachfrage von Salto.bz. Wojciechowski habe erklärt, dass der Green Deal ohne Milchviehhaltung nur schwer umsetzbar sei, weil die Weidehaltung für die Almbewirtschaftung und die Landschaftspflege in den Naturschutzgebieten von elementarer Bedeutung ist. Der EU-Agrarminister habe dabei auf Berichte aus Südtirol verwiesen, wonach der Tierbestand soweit gesunken sei, dass die Almbewirtschaftung darunter leide – und zwar nicht nur aufgrund der Problematik mit dem Großraubtierwild. „Der EU-Agrarminister hat klargestellt, dass für die Bewirtschaftung der naturschutzrelevanten Flächen Rinder gebraucht werden“, so Hannen. Auf den Rückgang der Milchviehhaltung angesprochen, erklärt der Vize-Präsident des EMB, dass die Situation in weiten Teilen Europas alarmierend sei – und Südtirol hier keine Ausnahme bilde. Allerdings gehöre Südtirol zu jenen Gebieten, wo kaum alternative Nutzungsmöglichkeiten vorhanden wären, insofern die Situation noch um einiges dramatischer sei.
 
 
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Elmar Hannen, Vize-Präsident des EMB: „Solange sich die Protagonisten, die den Markt bestimmen, einig über diese Überproduktion zu Exportzwecken sind, sind haben wir als Landwirte kaum eine Chance.“ (Foto: EMB)
 
 
Die Tendenz gehe dahin, dass die Milchviehhaltung zunehmend in Ackerbaugebiete abwandert und schwierig zu bewirtschaftende Regionen aufgegeben werden. Während in Südtirol also immer weniger Milch produziert wird, fließt sie in anderen Regionen im Überfluss. Der Grund dafür ist recht simpel: In Regionen, wo das Futter für die Tiere sozusagen vor der Haustür produziert werden kann, kommen die Landwirte mit den schlechten Milchpreisen besser zurecht, weil sie auf teure Zukäufe verzichten können. Berggebiete können da nicht mithalten und bluten regelrecht aus, so Hannen. Europaweit befinde sich der Milchmarkt in einer schwierigen Lage, weil die Kostensituation nicht mehr zum Ertrag passe. Zwar werden mittlerweile auch von den EU-Kabinettsmitgliedern Überlegungen hinsichtlich einer Aktivierung des Lieferverzichts angestellt, was bedeutet, dass Finanzhilfen bei einer Reduzierung der Liefermenge gewährt werden, bislang sperren sich vor allem die Hauptproduktionsländer Frankreich, Deutschland und Holland dagegen.
 
 

„Die Deutschen machen die Preise kaputt“

 
Wie Hannen berichtet, fließen in Deutschland 70 Prozent der produzierten Milch in die genossenschaftliche Verarbeitung. „Der Genossenschaftsverband, der Milch-Industrieverband wie auch der Deutsche Bauernverband weigern sich von einer Krise zu sprechen, die zu einer Reduzierung der Liefermenge führen würde“, schildert Hannen die Situation. Sie befürchten nämlich, dass die Exportfähigkeit des deutschen Rohstoffes Milch leiden würde, wenn die Produktionskosten in den Milchpreis mit einberechnet würden. Der Vorteil dieses Systems der „Produktion unterhalb der Kostendeckung“ liegt für die Genossenschaften jedoch darin, dass sie ihre „billige“ Milch nach China, Afrika, Südamerika oder auch in andere europäische Länder exportieren können. Allerdings wird damit auch das Preis-Niveau nach untern gedrückt oder drastisch ausgedrückt: Die Deutschen machen damit die Preise kaputt, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern mit 5 Cent pro Liter Transportkosten auch den Markt in Italien. „Solange sich die Protagonisten, die den Markt bestimmen, einig über diese Überproduktion zu Exportzwecken sind, haben wir als Landwirte kaum eine Chance“, so Hannen, der nach einer Prognose für die Zukunft gefragt, erklärt, dass es höchst an der Zeit wäre, dass sich die Politik auf europäischer Ebene damit auseinandersetzt. Ein erster Schritt dazu erfolgt am 8. November, wo die Vertreter des EMB im Europäischen Parlament ihre Forderungen vorbringen können.
 
 
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rotaderga Mon, 08/07/2023 - 07:39

Diese Entwicklungen werden aber nicht dazu führen, den Stimmenanteil der Kandidaten des Bauernbundes zu schmälern.
Lohnabhängige aus bäuerlicher Abstammung werden weiterhin unreflektiert ihre vermeintlichen Landwirtschafts Kandidaten wählen wie andere Arbeiter die LVH und HGV Vorschläge befolgen werden.
Und wenn es mal wieder Kritik gibt kann man ja Brüssel für alles verantwortlich machen.

Mon, 08/07/2023 - 07:39 Permalink
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Karl Gudauner Mon, 08/07/2023 - 12:17

Die EU-Agrarpolitik muss in Abstimmung mit den betroffenen Ländern Spielräume schaffen, damit in den Alpen (und nicht nur dort) naturnahe Formen der Rinderhaltung und der Milchproduktion wirtschaftlich rentabel sind und die vielfältige Funktion der Berglandwirtschaft auf Dauer gewährleistet werden kann. Wenn notwendig, unter Anwendung des bekannten Spruchs von Ex-EZB-Präsident Mario Draghi "What ever it takes". Das heißt, ökologische Erfordernisse und landwirtschaftliche Perspektiven Ernst nehmen. Und das noch vor den Europawahlen im kommenden Jahr. Da braucht es ständigen und überzeugten Druck der Bergbauern selbst. Die Gefahr des langsamen Ausblutens stellt angesichts der aktuellen Rahmenbedingungen das vordringlichste Risiko für die Berglandwirtschaft dar und ist dramatischer einzuschätzen als das Problem der Regulierung der Wolfs- und Bärenpopulationen.

Mon, 08/07/2023 - 12:17 Permalink
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Dietmar Nußbaumer Mon, 08/07/2023 - 13:43

Wer über die Kommentare Wahlkampf betreiben " muss", sollte dies nicht anonym tun - die Herren Staffler und von Wohlgemuth z.B. schaffen dies. Zudem gibt es außerhalb Südtirols, glaub ich, auch noch Menschen, auch wenn wir der Nabel der Welt sind. Die Zukunft der Bergbauern wird nicht nur in Bozen entschieden. Sicher ist, dass in Zukunft nicht alle Milchbetriebe weitergeführt werden.

Mon, 08/07/2023 - 13:43 Permalink
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rotaderga Mon, 08/07/2023 - 14:09

In reply to by Dietmar Nußbaumer

Es soll auch noch Menschen geben die ungebundene Meinungen und ohne irgendwelche Interessen/Hintergedanken von sich geben. Und warum nicht anonym.
Viele Meinungen hier im Forum mit Klarnahmen sind oft auch Forderungen, zumindest Wünsche und führen zum betreutem Denken ( wenn der oder die so denken!!!).

Mon, 08/07/2023 - 14:09 Permalink
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Klemens Riegler Mon, 08/07/2023 - 23:18

Da liest man sehr widersprüchliches! Einerseits gibt es zu viel Milch (drückt den Milchpreis) und andererseits wird beklagt, dass 160 Milchvieh-Betriebe 2022 aufgegeben haben. Letzteres bedeutet hoffentlich nicht, dass diese 160 Betriebe vom "Bauernsterben" betroffen sind. Nur weil ein Bauer umstellt (z.B. auf Fleisch, Getreide, UaB, Obst, Gemüse ... Holz, Energie ... ) ist er noch lange nicht gestorben ... Ganz im Gegenteil, er sorgt damit sogar vielleicht für Vielfalt und für eine Überlebensbasis.

Mon, 08/07/2023 - 23:18 Permalink
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Klaus Griesser Sat, 08/12/2023 - 12:17

Danke für die "widersprüchlichen" Daten! Was die Bergbauern hierzulande ruiniert ebenso wie die Viehwirtschaft Afrikas, ist die Abhängigkeit vom Weltmarkt Milch mit niederen Preisen zugunsten der Exportwirtschaft und der Nahrungsmittelkonzerne, in welchem unsere genossenschaftlichen Sennereien "ihren" von den Bauernschicksalen abgekoppelten Überlebenskampf via Preise führen. Mir scheint, der "Malser Weg" in Richtung regionale Kreislaufwirtschaft zeigt da einen Ausweg. Clemens gebe ich recht: die Kleinproduktion der Bergbauern muss vielfältig, klimaresistent und lokaltypisch sein mit lokaler Distribution.

Sat, 08/12/2023 - 12:17 Permalink