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Kollektive Biographin

Mit Spannung wurde auch in diesem Jahr die Verleihung des Literatur-Nobelpreises erwartet. Letztlich fiel die Wahl auf die Französin Annie Ernaux.
Annie Ernaux
Foto: Annie Ernaux

Unter den Nobelpreises ist jener für die Literatur neben dem Friedenspreis der wohl populärste, und daher auch meist diskutierte. Jährlich versuchen die Literaturkritik, aber auch die Leserschaft, Prognosen zu stellen. Wettbüros erstellen Listen mit potentiellen Gewinner*innen, und ihren Chancen. Einige Namen tummeln sich dort seit Jahren, andere seit mittlerweile Jahrzehnten. So etwa der japanische Schriftsteller Haruki Murakami, der sich durch seine einfachen, aber anrührenden und tiefsinnigen Geschichten mit Hang zum Surrealismus ein breites Publikum erarbeiten konnte. Oder aber, besonders in diesem Jahr hochaktuell, Salman Rushdie, der Verfasser der „Satanischen Verse“, der erst im August Opfer eines lebensbedrohlichen Attentats wurde. Ihm den Preis zu geben, wäre hochpolitisch gewesen. Genauso, jedoch etwas anders verhält es sich mit einem eher neueren Kandidaten auf der Favoritenliste, nämlich den Franzosen Michel Houellebecq. Er ist einer der interessantesten zeitgenössischen Schriftsteller, mit großen Talent zur präzisen und entlarvenden Gesellschaftsanalyse, und einer erschreckenden Treffsicherheit, wenn es darum geht, Entwicklungen in Frankreich und der Welt literarisch vorwegzunehmen, zu prognostizieren. Houellebecq ist jedoch auch ein Reaktionärer, den französischen Rechten zugewandt, und provoziert in seinen Büchern praktisch die ganze Zeit. Ihm den Nobelpreis zu verleihen, wäre aus literarischer Sicht verdient, hätte aber einen erneuten Skandal ausgelöst, ähnlich wie im Falle von Peter Handke im Jahr 2019. Nun aber wurde es eine andere Französin. Allein dieser Umstand dürfte die Chancen für Houellebecq in den nächsten Jahren schmälern.
 

Ernaux selbst führte in diesem Jahr erstmals Regie bei einem Dokumentarfilm, gemeinsam mit ihrem Sohn, und lief damit in Cannes.


Annie Ernaux, die Nobelpreisträgerin des Jahres 2022 ist sicherlich keine Überraschung. Sie war eine der oft zitierten Kandidatinnen einer Liste, die 233 Namen beinhaltete, deren genaue Zusammensetzung aber geheim ist. Das Nobelpreiskomitee verlieh ihr den Preis „für den Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Fesseln der persönlichen Erinnerung aufdeckt“. Die Wurzeln, das sind die ihren, Ernaux macht in ihren Texten das eigene Leben zum Thema. Stark autobiographisch gefärbt erzählt sie von den Anfängen als Kind von Arbeitern in der Normandie, bis hin zum Alltag als Schriftstellerin. Zu ihren wichtigsten Werken zählen ihr Debütroman „Les armoires vides“ (1974), „La Place“ (1983), oder „Les Annee“ (2008), letzteres gilt laut dem Nobelpreiskomitee als „kollektive Biographie“. Allein dass autobiographisch erzählt wird, galt zur Zeit von Ernaux Anfängen noch immer als umstritten, es galt oft als weniger literarisch wertvoll. Das zu ändern, ist sicherlich einer von Ernaux Verdiensten. Durch den subjektiven Blick von sich auf ihr Umfeld, ihr Land, die Welt, verarbeitet und reflektiert sie das Erlebte, und somit auch die Geschichte jenes Umfelds. Nicht umsonst bezeichnet sich Ernaux selbst als „Ethnologin meiner selbst“. In dieser Rolle konnte sie sich innerhalb der Literaturwelt einen hohen Rang erarbeiten. Die Verleihung des Preises dürfte keine großen Wellen schlagen, eine Kontroverse gibt es nicht. Dennoch ist Ernaux, anders als der letztjährige Gewinner Abdulrazak Gurnah alles andere als eine Unbekannte, und auch außerhalb von Fachkreisen bekannt. Das führte zu einigen Verfilmungen ihrer Werke, zuletzt „Das Ereignis“, Regie Audrey Diwan, ein Film, der den gleichnamigen Roman von Ernaux für die Leinwand adaptiert. Bei den Filmfestspielen von Venedig 2021 gewann er sogar den Goldenen Löwen für den Besten Film. Ernaux selbst führte in diesem Jahr erstmals Regie bei einem Dokumentarfilm, gemeinsam mit ihrem Sohn, und lief damit in Cannes. Nun, als frisch gebackene Nobelpreisträgerin kann sie sich freuen. Sie war zunächst nicht telefonisch zu erreichen, hieß es von Seiten der Schwedischen Akademie. Sie habe aus einer Agenturmeldung davon erfahren, heißt es nun von Ernaux selbst. Am 10. Dezember findet die Verleihung der Nobelpreise statt. Ob Ernaux persönlich erscheint, oder wie Dylan wegbleibt? Wir werden sehen.