VAMPYR
Im Jahr 1932 war der Tonfilm bereits etabliert. Und doch erinnert „Vampyr“, ein Vorläufer des klassischen Horrorkinos, inszeniert vom dänischen Regisseur Carl Theodor Dreyer, in vielerlei Hinsicht an den Stummfilm. Er leiht sich dessen Konventionen und spielt mit ihnen, ironisiert sie hier und da, und verwebt sie mit einigen, wenigen Tonelementen. Man würde den Film als traumartig beschreiben, denn er wird von einer Atmosphäre beherrscht, die diesem Ausdruck alle Ehre macht, hervorgerufen nicht nur durch die Erzählung, die lose auf der Novelle „Carmilla“ von Joseph Sheridan Le Fanu basiert, sondern auch durch die Inszenierung, die, das kann sicherlich festgehalten werden, hochexperimentell ist, und dadurch ihrer Zeit voraus. Nicht umsonst wurde „Vampyr“ bei seinem Erscheinen wenig geschätzt, er galt lange Zeit als misslungenes Werk Dreyers, doch gilt heute als großer Klassiker des Horrorgenres. Im Kern erzählt Dreyer ein Schauermärchen der alten Schule. Der junge Student Allan Gray erreicht das Dörfchen Courtempierre und begegnet dort des Nachts einem alten Herrn. Der wiederum übergibt ihm ein Päckchen, darin befindet sich, wie wir später erfahren werden, ein Buch über das Wesen des Vampirs. Ein solcher treibt sich wohl in dem Dorf herum, und schneller als es ihm lieb ist, wird der vom Phantastischen faszinierte Allan in einen Strudel aus Traum, Realität und Horror gezogen.
Die Handlung des Films ist wenig spektakulär, zumindest durch die Linse des Jahres 2022 betrachtet. Zu sehr nimmt der Film Anleihen an der klassischen Horrorliteratur, an Bram Stoker oder Edgar Allen Poe. Der Protagonist selbst erinnert an eine Mischung aus Kafka und Lovecraft, schüchtern, verschreckt, und doch irgendwie interessiert am Makabren, am Sinisteren, verrückt genug, den bösen Kräften auf die Schliche zu kommen. Schon bald weiß weder der Protagonist noch das Publikum zwischen Traum und Wachzustand zu unterscheiden, die Grenzen verschwimmen zunehmend, und unterstreicht wird dies durch die für die Zeit ungewöhnliche Inszenierung. Die ist der eigentliche Höhepunkt des Films, und der Grund, warum Dreyer als Meisterregisseur gilt – bis heute. Zahlreiche lange, komplex komponierte Kameraeinstellungen erzeugen einen hypnotischen Sog, die Kamera ist ungewöhnlich mobil, bewegt sich schlafwanderlisch durch die Räume der Erzählung, und präsentiert die darin stattfindende Wirklichkeit anhand vieler visueller Tricks. Doppelbelichtungen erzeugen Doppelgänger, Silhouetten emanzipieren sich von ihrem Ursprung und entwickeln ein Eigenleben, es tanzen Schatten, dort wo keine Menschen sind, und das clevere Spiel mit Helligkeit und Dunkelheit führt dazu, dass beide auf eigene Art bedrohlich wirken. Selbst taghelle Szenen im idyllischen Waldstück wirken unheimlich, möglicherweise aufgrund der verwaschenen Bilder, des unsicher taumelnden Allan, oder der Musik, die die Stimmung des Gezeigten stets passend untermalt. „Vampyr“ erzeugt ein völlig eigenes Gefühl, und nicht wenige Bilder werden unvergessen bleiben, man denke nur an den Fährmann, der mit seiner Sense am Ufer steht und die Glocke läutet – er ist nur eines von vielen Symbolen, in denen der Tod allgegenwärtig ist. Der Film ist in seiner Gesamtheit ein Mahnmal des Todes, wie ein Vorzeichen, ein Memento Mori sozusagen, eines der ersten der Filmgeschichte, und sicherlich ein unverstandenes, seiner Zeit voraus, heute ein Klassiker und damit unsterblich wie die schrecklichen Monster der Nacht.
Zu sehen am 10. und 11. Jänner im Filmclub Bozen.