Society | Anstatt 8. März

Sie dreht sich

Zum Tag der Frau gibt es nicht viel Neues zu sagen. Nur das eine: Ein Prozess, der unsere Zeit, unsere Gesellschaften ganz offensichtlich befasst.

Frauen sind anders. Männer auch. Eben. Der Blick auf die Geschlechter, vielmehr auf genderspezifische Anteile, die ein Geschlecht bestimmen, zeigt, dass sich der gesellschaftliche Mainstream immer mehr damit befasst, die Grenzen zwischen den Geschlechtern überhaupt zu finden, zu benennen, sie aufzulösen oder neu und nochmals grade zu ziehen. Je nachdem. Es gelingt nie wirklich. Ganz. Und nie für alle.

Es geht um Grenzen, die in unseren Gesellschaften als Unterscheidungslinien zwischen den Geschlechtern und den ihnen zugewiesenen Rollen gezogen werden. Der Plural, GesellschaftEN, ist nötig geworden, seit der Silvesternacht in Köln. Aber auch schon lange vorher, etwa seitdem die Türkei gerne Mitglied der Europäischen Union werden würde. Das türkische Frauenbild, also das Frauenbild, das die türkische Regierung forciert, ist der beste Grund für uns Frauen in der EU, die Türkei nicht aufzunehmen, solange die einstimmige Beschlussfindung die Handlungsfähigkeit Brüssels voraussetzt. Es wäre kein Vorwärtskommen in Sachen Abbau von Ungleichheiten mit der Türkei möglich.

Traditionelle und moderne Rollenbilder treffen heutzutage, 2016, heftiger aufeinander als je zuvor. Niemals gab es derart breit so kontrovers geführte Diskussionen zu den Rechten von Frauen, mit Minirock, mit Burka, mit dem Glas Wein in der Schwangerschaft, mit ihrem Vorsitz in Verwaltungsräten, Parlamenten, Regierungen. Nicht einmal dem ersten breiten und fundamentalistischen Feminismus, für den damals Leute wie Alice Schwarzer die Fahne hielten, gelangen derart breitgefächerte Diskussionen zum Wert, zur Partizipation, zur Rolle der Frau. Der Frauen, wir, die so unterschiedlich sind, dass es keinen Kamm gibt, über den unser aller Bedürfnisse geschert werden könnten.

Europa – und auch die USA – brauchen weder Köln noch die Türkei, um ihr eigenes Frauenbild zu überdenken. Da gibts viel zu adjustieren. Aber man und frau kann durchaus festhalten, dass sich die Welt weiterdreht: Man kann im anstehenden Bozner Wahlkampf beruhigt zuhören, wie selbstverständlich es geworden ist, auch für KandidatEN, in ihren Reden und Interviews nicht mehr nur ihre Wähler, sondern eben auch die Wählerinnen anzusprechen. Das war vor 20 Jahren den Männern und auch den Frauen nicht klar, dass mit den Wählerinnen 50 Prozent des Stimmenpotentials erreicht werden.


Gesamtpolitischer Blick

Doch es hängt von den unterschiedlichen Aspekten des menschlichen Daseins ab, wie sich der Geschlechterkampf oder das Verhältnis zueinander darstellt. Etwa in der Wirtschaft: Solange Frauen 30 Prozent weniger verdienen, ist es für einen Mann nicht sonderlich interessant, mehr Weiblichkeit im Beruf für sich zu entdecken. Darum gibt es auch praktisch keine Kindergartenonkel. Schade, aber Recht hat ER, unter diesen Bedingungen zu wählen. Frauen tun es trotzdem. Warum eigentlich?

In Redaktionen wird heute weniger gezahlt, um ein anderes Beispiel zu bemühen. Dass ehemals männlich dominierte Berufe von immer mehr Frauen begehrt werden – und damit die Gehälter sich in den Sinkflug bewegen, kann man nicht einfach den Männern anlasten.
Warum denn auch?

Der gesamtpolitische Blick muss sich mehr auf Wertschätzung, Bescheidenheit, Mehrfachbelastung und Gerechtigkeit richten. Zwar sind auch an der Adjustierung des gesamtpolitischen Blickes immer noch mehr Männer am Hebel. Doch Frauen hätten mehr Wirkungsgrad, als sie kollektiv unter Beweis stellen. Das zeigt aktuell in bewundernswerter Manier Angela Merkel, die deutsche Kanzlerin, deren Luft dünn um sie wird. Wirkungsstärke, die muss ihr jede und jedeR zugestehen (außerdem geb ich ihr Recht, was mit diesem 8. März aber nichts zu tun hat).


Gegenseitig befruchten

Mehr Entschlossenheit, mehr Aggressivität, auch taktische, beim Durchboxen von Prinzipien, von Beschlüssen, sogar in Gehaltsverhandlungen ist selbst Frauen durchaus zuzumuten. Aggressivität gilt zwar als ein männliches Sozialverhalten, das sich aus biologischen Voraussetzungen erklären lässt. Aber es lässt sich lernen, auch für Frauen, und es geht bescheidenerweise manchmal lediglich um ein paar Euro mehr am Ende des Monats. Oder um einen politischen Beschluss, der eine Weiche stellt, bezüglich jener Fragen, die heute in unzähligen Kommentaren aufgeworfen werden, um den gesamtpolitischen Blick gerechter zu werden.

Männer inspirieren sich längst an weiblichen Attitüden, etwa im kreativen Ausdruck. Manche schminken sich, andere betreiben Körperpflege (und sehen damit im mittleren Alter besser aus, als die es nicht tun, was Frauen wiederum freut). Einstige no goes, kurze Hosen oder Farben in den traditionellerweise blau-grau-braun-schwarzen Männergarderoben, sind heute keine Seltenheit mehr. Ebensowenig Männer in Yoga-Kursen, Männer, die stricken, ihre Kinder im Wagen durch die Gegend fahren.
Balletttänzer hat es immer gegeben.


trans, homo, chance

Wahrscheinlich hat die Eurovisonssiegerin von 2014, Concita Wurst, dazu weltweit für etwas Sensibilisierung gesorgt. Ihre/seine drastische Darstellung "Abendkleid mit Bart" lenkt nicht von den Nuancen ab, die Attitüden beider Geschlechter vermischen, vereinen und Neues entstehen lassen. Transsexualität ist ein Spiel mit den Geschlechterfronten, für Betroffene ein Bedürfnis, die klaren Linien anders zu ziehen.

Auch die Homoexuellenbewegungen, nach der jüngsten Parlamentsdiskussion zu den gleichgeschlechtlichen Partnerschaften und pro&contra-Argumente deren Adoptionsrechte sogar in Italien, sorgen letztlich für eine Entschärfung an der Geschlechterfront. Allein schon deshalb, weil selbst der biederste Haushalt über die fadesten Nachrichten Aussagen und Bilder über dieses geschlechtsspezifische Umdenken geliefert bekommt – das bis vor wenigen Jahren im Dunkeln und in dunklen Szenen verborgen blieb.

Transsexualität, Homosexualität – und dann kommt noch die andere Gruppe hinzu: falsche Köpfe in falschen Körpern, das Thema Geschlechtsveränderung. Regisseur Tom Hooper hat es aktuell in "The Danish Girl" (2015) gezeigt: den ersten dokumentierten Fall eines Dänen, der sich 1930 zur Frau umoperieren ließ. Erfolglos, aber glücklich.


Emotional, biologisch oder sozial

Einar, der Hauptdarsteller, fühlt sich als Lili. Der Film geht sehr auf die emotionalen und physischen Aspekte ein, die der Mann lernen will, um Frau zu sein. Dass der Film in so kurzer Zeit so viele Preise eingeheimst hat, hängt auch mit der Aktualität des Themas zusammen.
Bereits Michele Houllebecq, der französische Skandalautor, hat in seinem Roman "Elementarteilen" 1999 eine Nachrede zum Thema geschrieben: Allerdings postuliert Houllebecq genau das Gegenteil: das asexuelle Wesen als Folge einer Desorientierung der Geschlechter und Überforderung vor neuen Beziehungsformen. Man kann seine Verzweiflung – oder ist es doch Houllebecqs Nihilismus – ohne weiteres über die intime Beziehungen hinaus auf gesellschaftliche und berufliche Beziehungen zwischen den Geschlechtern übertragen.


Ende der Gräbenkämpfe

Die Sensibilisierung für die Gleichberechtigung geht keinen geraden Weg. Den hat der Feminismus in den 70er Jahren gezeichnet, nur wird der leider und Gott sei dank den Bedürfnissen der Frauen, zumal jenen des 21. Jahrhunderts, nicht gerecht. Er ist zu linear. Er hat Grabenkämpfe verursacht, in deren Schlachten alle müde geworden sind. Oder zumindest die meisten. Ich jedenfalls.

Die erfrischende Suche nach den Grenzen zwischen den Geschlechtern und nach den geschlechtsspezifischen Merkmalen, ob den biologischen, genetischen, sozialen, machtpolitischen, wirtschaftlichen, offensichtlichen und weniger sichtbaren, zeichnet die Linien an der ehemals harten Geschlechterfront weich.

Darin ist Identitätsfindung für alle möglich, damit hören Pauschalierungen auf und somit steigt das gegenseitige Verständnis zwischen Frauen und Männern. Ein Prozess, der unsere Zeit, unsere Gesellschaften ganz offensichtlich befasst.

Der Dank für diese Bewegung an der alten Front geht an die Mutigen: An alle, die als Minderheiten an dieser Sensibilisierung beteiligt sind.
Die Homos, die Transen, die Umoperierten, jene, die an den Beziehungen verzweifeln und die uns diese wissen lassen.
Nicht zuletzt eben auch an die Flüchtlinge, die uns mit ihren anderen kulturellen Hintergründen unsere Werte überprüfen lassen – indem sie die Grenzen zwischen den Geschlechtern samt deren Rollen in die Diskussionen bringen.

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gorgias Wed, 03/09/2016 - 11:56

Aber man und frau kann durchaus festhalten, dass sich die Welt weiterdreht: Man kann im anstehenden Bozner Wahlkampf beruhigt zuhören, wie selbstverständlich es geworden ist, auch für KandidatEN, in ihren Reden und Interviews nicht mehr nur ihre Wähler, sondern eben auch die Wählerinnen anzusprechen.

Wenn das der Fortschritt sein soll, dann muss man schon wirklich stark an dekorative Nebensächlichkeiten interessiert sein.

Die Beteiligung der Frauen an politischen Prozessen lässt wirklich zu wünschen übrig. Die Unterrepräsentiertheit von Frauen am Konvent geht von den Frauen aus, die nicht hingehen und nicht von einem vermeintlichchen Patriarchat (wahrscheinlich repräsentiert durch die vier netten Organisatorinnen) der sie daran hindert. Wahrscheinlich hätte man die Plakate anstatt in Grau in Rosa gestalten sollen, so wie die gestrige Dolomiten. Das muss wohl der gesellschaftliche Prozess sein, den Sie meinen.

Wed, 03/09/2016 - 11:56 Permalink