Das Erinnern wieder lernen
salto.bz: Im November sind zwei Stücke von Ihnen auf Bühnen in Deutschland und Österreich zu sehen. "Fallen" in Wien und "Leaving Carthago" – das gemeinsam mit Pina Bergemann entstanden ist –, in Jena. Erfreut?
Anna Gschnitzer: "Fallen" wurde eben in Wien zur Uraufführung gebracht, von einem sehr tollen Team um Isabella Sedlak. Das freut mich sehr, zumal der Text schon etwas älter ist. Ich habe ihn 2015 geschrieben und empfinde es als etwas ganz Besonderes mit ein bisschen Abstand darauf schauen zu können. Es geht in dem Text um unser Verhältnis zu Zeit, vor allem darum, wie wir uns die Zukunft einmal vorgestellt haben werden. Von daher könnte man die Aufführungsgeschichte des Stückes selbst schon wieder als Teil des ganzes Konzepts verstehen. "Leaving Carthago" hatte letztes Jahr im April Premiere und wird nun wiederaufgenommen. Auch das ein großes Herzensprojekt. Es geht um das Thema Mutterschaft und darum warum wir Fürsorge und Selbstbestimmung als Wiedersprüche verstehen. Warum geht die Vorstellung von einer wirklich frei und emanzipiert lebenden Künstlerin nicht mit unserem Bild von Mutterschaft zusammen? Welche patriarchalen Bilder tragen wir immer noch in uns und was befeuern wir mit der Vorstellung vermeintlicher Freiheit? Ich freue mich sehr darauf wieder nach Jena zu fahren, vor allem auch weil wir in dem Projekt mit einem Chor von Müttern zusammengearbeitet haben, es war eine wirklich schöne und ermächtigende Begegnung.
Zur freien Entscheidung Mutter zu werden, gehört eben auch die freie Entscheidung es nicht werden zu müssen.
In "Fallen" treffen sich zwei Menschen in der "Tate" vor einem Gemälde von William Turner. Sind Ort und Maler Zufall? Wegweisend für die Entwicklung der Geschichte? Oder gar eine biografische Erinnerung?
Als ich "The Slave Ship", das Bild, das Turner im Jahr 1840 gemalt hatte – und auch das Bild, vor dem sich meine Protagonist:innen treffen –, zum ersten Mal sah, stieg in mir das diffuse Gefühl hoch, dass die darauf abgebildete Szene etwas mit unserer Gegenwart zu tun hatte. Erst später las ich, dass das Bild einen realen Vorfall darstelle. Eine Massentötung von mehr als 130 versklavten Menschen durch die Besatzung des britischen Sklavenschiffs "Zong" am und in den Tagen nach dem 29. November 1781. Der Kapitän des Schiffs ordnete an, die Kranken und Sterbenden über Bord zu werfen, weil die Versicherung, die er vor der Überfahrt geschlossen hatte, nur auf See verlorene "Sklav:innen" abdeckte, also Menschen, die ertrunken waren und nicht die, die an Bord starben. Turners Gemälde fängt den Moment ein, in dem Menschen mit ihrem möglichen, zukünftigen, spekulativen Wert ersetzt werden, indem man sie tötet. Das vergossene Blut sollte sich in einen abstrakten, körperlosen Wert verwandeln, ein Informationsstrom, der in der Zukunft, so hofft jedenfalls der Kapitän, profitabel werden sollte. Trotz dieses mörderischen Versuchs, die Zukunft berechenbar, kalkulierbar, kontrollierbar zu machen, gibt es in diesem Bild keine wirkliche Horizontlinie, keinen Fluchtpunkt nach vorne und die Position der Beobachterin selbst beginnt zu wanken. Angesichts der Auswirkungen von Kolonialismus und Sklaverei beginnt nicht nur die Welt zu taumeln, sondern auch diejenigen, die sie betrachten.
Ich schreibe über das was mich bewegt, und das hat eben mit Gegenwart zu tun.
Auch die Protagonist:innen von "Fallen" baumeln. Der Text geht dieser Bewegung nach, der Bewegung des Fallens. Es ist ein Fallen, wie ein Heranzoomen und gleichzeitig, wie ein Sich-entfernen, ein Zwischen-die-Pixel-Fallen und ihnen ganz nah kommen, bis man mit ihnen verschmilzt. Eine Suchbewegung, die sich der abstrakt gewordenen Realität nähern, sie verstehen möchte, auch weil wir uns ihr nicht länger entziehen können. Denn all die Immaterialität, all die Abstraktion, das Hologramm das wir unser Leben nennen, wird gerade eingeholt von realer Materie, von Hitze und Überschwemmungen, die sich unserem Versuch widersetzen abstrakte Werte, in die Zukunft hinein spekulieren, die uns zurückholen in eine Gegenwart, in der wir handeln müssen.
Sie haben mit "Fallen" den Münchner Förderpreis für deutschsprachige Dramatik erhalten. Mit dem Stück "Einfache Leute" waren sie im vergangenen Jahr beim Heidelberger Stückemarkt. Wie halten Sie sich – im zeitgenössischen Theaterbetrieb – am Puls der Zeit?
Ehrlich gesagt, stelle ich mir diese Frage nicht. Es wäre sehr stressig sich ständig zu überlegen welche Themen gerade dem Zeitgeist entsprechen und wie man in den Theatermarkt hineinpasst. Ich schreibe über das was mich bewegt, und das hat eben mit Gegenwart zu tun.
In "Leaving Carthago" geht es um das Frage Kind oder Karriere, mitunter auch um das Thema Schwangerschaftsabbruch. Wie nähert man sich – als Dramatikerin aber auch als junge Mutter – an einen Text zu dieser Thematik?
Wir sind von Pinas konkreter Geschichte ausgegangen. Sie hatte ihren Lebenslauf gefälscht, weil sie die „Lücke“, die durch die Geburt ihres ersten Kindes entstanden ist, mit einem fiktiven Stück – nämlich Leaving Carthago – kaschieren wollte. Das war für mich eine ziemliche Steilvorlage. Natürlich geht es in Leaving Carthago um dieses fiktive Stück. Ein Stück im Stück (im Stück usw.), man hangelt sich von einer Behauptung zur nächsten, und reflektiert dabei natürlich auch die Frage, warum Pina überhaupt auf diese Lüge zurückgreifen musste und wieder in den Beruf einzusteigen und warum Care-Arbeit nicht ganz selbstverständlich Teil eines „erfolgreichen" Lebenslaufes sein kann. Und natürlich spielen dabei auch meine eigenen Erfahrungen als Mutter und Autorin eine große Rolle. Wir behandeln in dem Stück unterschiedliche Erfahrungen zum Thema reproduktive Rechte und sexuelle Selbstbestimmung, u.a. auch Schwangerschaftsabbrüche. Zur freien Entscheidung Mutter zu werden, gehört eben auch die freie Entscheidung es nicht werden zu müssen.
Wir haben die Natur, so wie wir sie jetzt kennen, bereits verloren, das ist ein schmerzlicher, ein fast unerträglicher Gedanke.
Kommen Ihre Bühnenstücke auch in ihre Herkunftsgegend Südtirol zur Aufführung?
Am 15. Februar 2023 wird Fanes* in der Regie von Cilli Drexel an den Vereinigten Bühnen Bozen uraufgeführt. Es handelt sich um eine Zusammenarbeit mit der Musicbanda Franui. Dabei gehe ich mit Motiven der Fanessagen um. Auch die Bearbeitung der Fanessagen durch Anita Pichler, waren für diesen Text sehr wichtig. Ein wirklich toller Stoff, der in seiner archaischen Qualität über die Gegenwart hinaus zeigt und doch so viele Bezüge dazu herstellt. Ich sehe darin das Verhältnis von Mensch und Natur, das von Angst und Sehnsucht geprägt ist. Ich lese aber auch die Themen Verlust, Vergessen und Erinnerung heraus. So sind viele Geschichten, die ja nur durch Oral History weitergegeben wurden, vor dem Vergessen „gerettet“ worden, indem man sie rekonstruiert hat, dabei stellt sich natürlich die Frage, wieviel erzählerischer Kit für das Zusammenfügen der einzelnen Fragmente im Nachhinein hinzugefügt wurde. Das alles verwebe ich zu einer ganz eigenen Geschichte, die all diese Themen reflektiert, ohne zu behaupten die Fanessagen zu erzählen, es ist vielmehr der Versuch einer Erinnerung, an etwas, das vielleicht immer schon fragmentiert und lückenhaft war. Verlust ist aber auch etwas, mit dem wir im Hinblick auf die Natur, auf unser Ökosystem umgehen müssen. Wir haben die Natur, so wie wir sie jetzt kennen, bereits verloren, das ist ein schmerzlicher, ein fast unerträglicher Gedanke. Die Fanessagen erzählen vom Untergang einer Zivilisation, sie erzählen von einem vergessenen Pakt mit der Natur, ich hoffe, dass wir das Erinnern wieder lernen.
Sie haben in Wien am Institut für Sprachkunst studiert. Wie hat das Studium Ihre jetzige Tätigkeit als Bühnenautorin mitgeformt?
Das Studium dort war insofern wichtig, weil es mir zum ersten Mal ermöglicht hat, das Schreiben in den Mittelpunkt meiner Aufmerksamkeit zu stellen. Auch hatte bis dahin nur ein paar Notizen und Skizzen hier und da, irgendwo hingekritzelt und plötzlich musste ich fertige Texte liefern, das hat mich oft sehr stark unter Druck gesetzt , aber ich musste mich deshalb auch bekennen: Wollte ich dem Ganzen wirklich eine Chance geben, wollte ich an mich glauben oder nicht? Das Studium hat mich sozusagen zum Schreiben hin geschubst.
An welchen Texten schreiben Sie gerade?
Ich schreibe gerade an zwei Texten gleichzeitig, wie bereits gesagt an Fanes*, das am 15. Februar in Bozen Premiere hat und an "Wasser", das am 21.04.23 am Stadttheater Ingolstadt Premiere haben wird. "Wasser" ist ein Stück über sieben Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Was sie eint ist einfach nur die Tatsache, dass sie das soziale Konstrukt Familie bilden. Es geht um die vielzitierte Spaltung der Gesellschaft auf der Mikroebene der Familie. Wie kann man eine gemeinsame Sprache finden, wenn sich schon zwischen Verwandten große Milieu-Unterschiede auftun, wenn sich transgenerationale Traumata immer weiter fortschreiben und Opfer-Täter-Beziehungen scheinbar unübersichtlich, aber dennoch tief in familiären Strukturen verankert sind? Ich freue mich sehr über diese beiden Arbeiten, und auf die nächsten Wochen!