Politics | Großbritannien

“Theresa May ist gescheitert”

Der Politikwissenschaftler Günther Pallaver analysiert die Wahl in Großbritannien, die Fehler der Premierministerin, den Aufstieg von Jeremy Corbyn und den Brexit.
Günther Pallaver
Foto: Salto.bz

salto.bz: Herr Pallaver, wie deuten Sie den Ausgang der Parlamentswahl in Großbritannien? Premierministerin Theresa May hatte die vorgezogenen Neuwahlen ausgerufen, um sich den Rücken für die Brexit-Verhandlungen stärken zu lassen. Was deutlich schief gegangen ist. Ihre Partei, die Tories, haben die absolute Mehrheit im Unterhaus des britischen Parlaments verloren.
Günther Pallaver: Es ist nicht das erste Mal, dass vorgezogene Neuwahlen in Großbritannien nicht in die Richtung jener gehen, die sie vom Zaun gerissen haben. Wie in anderen Ländern auch. In Frankreich ist das Jacques Chirac passiert wie jetzt Premierministerin May. Sie hat natürlich gedacht, dass sie mit Neuwahlen ihre Mehrheit ausbauen kann, um ihr Brexit-Programm mit entsprechendem Rückhalt durchziehen zu können. Innerhalb der Konservativen gibt es zwei Fraktionen: jene, die die “Hard-Brexit”-Linie durchziehen wollen und andere, die eher für eine “Soft”-Linie sind. Theresa May ist mit ihrem Vorhaben gescheitert. Ich gehe davon aus, dass sie nicht mehr sehr lange Ministerpräsidentin sein wird.

Wie erklären Sie sich das Wahlergebnis und den starken Stimmenverlust für May und die Konservativen?
Es gibt ein Bündel von Gründen. Zum einen war sicherlich die Persönlichkeit May nicht ideal. Wir wissen, die Politik ist heute stark personenbezogen, und May war auf dieser Ebene absolut nicht auf dem Höhepunkt. Sie hat den Wahlkampf sehr flach gehalten, war sehr sperrig und hatte Probleme, den Menschen empathisch entgegenzukommen. Aber es sind vor allem politische Gründe, die dazu geführt haben, dass das Ergebnis für May nicht gerade blendend war.

Welche?
Eine gewisse Anzahl von Bürgerinnen und Bürger sind im Brexit enttäuscht worden. Die Hoffnung, dass alle Brexit-Wähler auch die konservative Partei wählen würden, war natürlich eine völlig falsche. Aber auch der Umstand, dass seit Ausrufung der Neuwahlen zwei Attentate stattgefunden haben, spielt eine Rolle. In diesem Zusammenhang kam der Vorwurf an May auf, als Innenministerin die Sicherheitskräfte stark abgebaut zu haben.

Ich gehe davon aus, dass Großbritannien eine kurzfristige Minderheitenregierung erhält, die eine Übergangsregierung sein wird.

Nichtsdestotrotz hätte man davon ausgehen können, dass Menschen und damit die Wähler in Zeiten von Verunsicherung auf Stabilität setzen und nicht die Veränderung wählen. May versuchte nach den Attentaten in Manchester und London mit Slogans wie “enough ist enough” und “strong and stable” zu überzeugen. Offensichtlich hat sie damit nicht punkten können. Bedeutet das, dass es den Briten vorwiegend um andere Themen ging als um Sicherheit?
Die Sicherheit ist natürlich ein sehr wichtiges Thema. Aber man kann auch von der These ausgehen, dass sich Großbritannien durch den Brexit vom europäischen Integrationsprozess wieder zurückgezogen hat; dass sich viele aber gerade in einer Situation, wo wir ständig mit Attentaten konfrontiert sind, im europäischen Kontext stärker aufgehoben sehen. Und das könnte ebenfalls für jene ein positiver Aspekt gewesen sein, die nicht die harte Brexit-Linie vertreten.

Auf der anderen Seite gibt es einen großen Sieger: Jeremy Corbyn, Parteivorsitzender der Labour-Partei. Ein “alter” linker Protestpolitiker. Was überzeugt die Menschen an so einer Person?
Jeremy Corbyn hat in seiner ruhigen Art eine Botschaft der Hoffnung vermittelt. Wir wissen, dass Botschaften der Hoffnung für die Menschen heute besonders wichtig sind, in einer Situation, die von vielen Konflikten und Problemen gekennzeichnet ist. Corbyns Botschaft war weniger konkrete, politische Aktionen zu setzen als vielmehr ein Gefühl der Hoffnung zu geben. Insbesondere der jungen Generation, die laut den ersten Exit-Polls-Analysen doch sehr stark hinter Corbyn gestanden ist.

Der Labour-Kandidat war im Vorfeld der Wahl praktisch schon abgeschrieben. Wie hat Corbyn derart stark aufholen können?
Die Figur Corbyn war stark geprägt von der innerparteilichen Auseinandersetzung. Die Parlamentsfraktion war stets gegen Corbyn und hatte vor den Wahlen eine parteiinterne Vorwahl veranlasst. Aus der Corbyn äußerst erfolgreich als Sieger hervorgegangen ist – dank der Unterstützung der Parteibasis. Dieser Konflikt zwischen Fraktion und Parteivorsitzendem hat die mediale Öffentlichkeit stark geprägt. Aber wir sehen auch, dass die Basis der Partei – die Mitgliederzahlen haben stark zugenommen, sodass Labour heute die mitgliederstärkste Partei Europas ist – und die Hoffnung, die Corbyn gegeben hat, stärker war als die innerparteilichen Konflikte.

Heute gibt es eine starke Personalisierung in der Politik. Theresa May war auf dieser Ebene absolut nicht auf dem Höhepunkt.

In Ihrer ersten Antwort haben Sie es angedeutet: Sie gehen davon aus, dass Theresa May nicht mehr lange Premierministerin sein wird. Wie geht es Ihrer Meinung nach in Großbritannien innenpolitisch, aber auch im Hinblick auf die anstehenden Brexit-Verhandlungen weiter?
May wird möglicherweise eine Minderheitenregierung auf die Füße stellen und mit variablen Mehrheiten regieren. Das geht natürlich nicht auf ewige Zeiten, sondern höchstens kurzfristig. Es könnte auch sein, dass May versucht, mit den Liberaldemokraten eine Koalition einzugehen – wie es bereits ihr Vorgänger David Cameron gemacht hat. Allerdings gibt es hier eine große Hürde, nämlich dass die Liberaldemokraten gegen den Brexit sind. Insofern werden sie Mays Politik nicht unterstützen. Was ich mir schwer vorstellen kann ist, dass sich alle anderen Parteien neben den Konservativen zusammenschließen werden, um eine Ampelkoalition zu bilden. Mittelfristig wird es zu Neuwahlen kommen, weil Großbritannien gerade im Hinblick auf die Brexit-Verhandlungen eine stabile Regierung benötigt. Und das ist momentan nicht der Fall.

Welche Strategie wird Theresa May bei den Brexit-Verhandlungen nun fahren?
Wir können davon ausgehen, dass Großbritannien unter May versuchen wird, die Verhandlungen eher zögerlich anzugehen, um Zeit zu gewinnen bis man wieder eine stabile Regierung haben wird.