Society | Magersucht

Endlich werde ich gesehen

Warum (ver-)hungert jemand freiwillig? Es ist nicht einfach ein Schlankheitswahn, der Mädchen in die Magersucht treibt. Eine Betroffene erzählt.

Meine Freundin, wie sie heißt, ist hier nicht von Bedeutung, leidet an bulimischer Anorexie; eine der Mischformen von Essstörungen, bei der krankhaft versucht wird, das eigene Gewicht zu reduzieren, unter anderem durch selbst herbeigeführtes Erbrechen.

Der gesellschaftlicher Druck existiert für alle. Manche begegnen ihm mit Stärke und Gleichgültigkeit. Manche wiederum bringen andere Prädispositionen mit und reagieren viel sensibler auf den Druck von außen. Charakter, familiäre Umstände etwa, können den Selbstwert enorm beeinflussen. (Raffaela Vanzetta, INFES)

"Eigentlich wollte ich nur schlank sein. Nie dünn. Fit, straffe Haut, Muskeln, aber nicht zu viele. So wie die Frauen im Fitnessstudio, in den Sportmagazinen. Irgendwann ist mir alles aus den Händen geglitten. Die gesunde Ernährung ist zur Diät, die Diät zu Verboten geworden. Der Sport, vom lockeren Joggen zum Wahn."

Bei dem heutigen Schönheitsideal geht es nicht um das Model auf dem Plakat. Mit Schlankheit werden in unserer Gesellschaft viele positive Merkmale verbunden: Kontrolle, Selbstdisziplin, Erfolg, Gesundheit. Während Übergewicht mit negativen Eigenschaften wie Trägheit, Faulheit, Disziplinlosigkeit oder mangelnde Hygiene behaftet ist. Und wer will als junges Mädchen oder Frau so etwas verkörpern? “Wenn ich nichts esse, muss ich mich nicht damit auseinandersetzen.” Schlankheit, das Verzichten auf Essen, die rigide Kontrolle über den Körper ist gesellschaftlich anerkannt. (Vanzetta)

"Wie gut ich mich fühle. Ich habe es geschafft. Das Stück Kuchen bei der Geburtstagsfeier ist auf dem Teller liegen geblieben. Brav bin ich gewesen, ein Hochgefühl überkommt mich. Ich bin besser als die anderen, habe mich unter Kontrolle, lasse mich nicht einfach gehen."

Mehr als Schlankheitswahn ist die Magersucht. Eine psychosomatische Störung, jene mit dem höchsten Sterberisiko überhaupt. Gesundheitliche Schäden wie Herzrhythmusstörungen oder Organversagen führen in vielen Fällen zum Tod. Ein erstes Anzeichen für ernsthafte Probleme ist das Ausbleiben der Monatsblutung.

"Etwas stimmt nicht mit mir. Ich verliere Haare, meine Nägel werden brüchig. Mein Herz schlägt oft schnell und fest. Und doch peitsche ich mich auf, ignoriere die Signale, die mir mein Körper schickt. Ich habe ihn unter Kontrolle, bin stolz auf das, was ich aus ihm gemacht habe. Und wenn mir jemand sagt "Du wirst ja immer dünner", dann freu ich mich. Endlich sieht mich jemand. Ich bin von klein auf immer ehrgeizig gewesen, wollte gute Leistungen in der Schule und später an der Uni schaffen, setzte mich immer unter Druck. Ich wollte eine gute Freundin, eine brave Tochter, eine ausgezeichnete Studentin sein. Der Druck kam nie von jemand anderem außer mir. Aber die Ergebnisse meiner Leistungen waren nie gut genug für mich. Nur wenn ich etwas leiste, bin ich wer, werde ich gesehen. Ich war immer für andere da, hab Vieles aufgenommen, ohne etwas los zu werden."

Die Essstörung ist in vielen Fällen für die Betroffenen eine Lösung. Eine Art Selbstmedikation, um mit Druck und Stress umzugehen, sie können einfach alles "auskotzen". (Vanzetta)

"Die letzten Prüfungen stehen an, die Seminararbeiten müssen fertig geschrieben werden. Tagsüber lerne ich, bis Mitternacht. Dann geht's ab ins Fitnessstudio, für mindestens eine Stunde hetze ich über das Laufband. Dann nach Hause, weiterlernen. Nach Semesterende wird schon alles besser werden, wenn erst mal der Stress aufhört. Doch es hört nicht auf, es wird schlimmer. Treffen mit Freunden sage ich ab, bleibe zu Hause um mich ganz meiner neuen Freundin zu widmen. Sie ist immer da für mich, auf sie kann ich mich verlassen, sie gibt mir Sicherheit."

Aussagen von Familie und Freunden wie "Du bist zu dünn", "Du musst mehr essen", stoßen bei den meisten Betroffenen auf Ablehnung. Ein ernst gemeintes "Wie geht es dir?" bewirkt oft viel mehr. (Vanzetta)

"Ihr seid doch nur neidisch, wollt nicht einsehen, dass ich einfach stärker bin. Ihr versteht das nicht. Jetzt, im Nachhinein werde ich von vielen, Freunden und Familie, angesprochen: "Wir haben uns schon lange Sorgen gemacht, aber uns nie getraut, etwas zu sagen." Hätte das etwas geändert? Ich weiß es nicht."

Mädchen, die an Magersucht erkranken, sind von außen betrachtet schwer zu verstehen. Sie sind aber ganz hungrig nach Anerkennung. Solange das nicht erkannt wird, von ihnen selber und von ihrer Umgebung, ist es für sie schwer, wieder frei zu leben. (Vanzetta)

"Schließlich schaffe ich es nicht mehr. Schlafstörungen und die Ess-Brech-Attacken, die tagelang anhalten, haben mich an den Rand des Wahnsinns getrieben. Ich stelle mich vor den Spiegel, erkenne mich nicht mehr wieder. Wer bin ich geworden? Was hat mich dazu gemacht? Will ich dieses Spiegelbild sein? Ich will nicht."

Die Behandlung dauert oft Jahre, ein Drittel der Betroffenen wird geheilt. Ein Drittel erlebt Rückschläge, lernt aber, damit umzugehen. Ein weiteres Drittel schafft es nicht.

"Die Therapie tut mir gut, ich bin in professionellen Händen. Eine Last ist von mir abgefallen. Aber es ist schwer. Ermüdend. Zeit- und kräfteraubend. Ich hätte nicht gedacht, dass das alles so mühsam wird. Aber ich weiß, ich muss das nicht alleine durchstehen. Nicht mehr. Ich sehe die Krankheit als Chance, um so zu werden, wie ich bin."

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