Sibylle Berg schrieb für Spiegel online
Wir sind hart geworden. Erregen uns schnell, vergessen, denn da steht schon wieder das nächste Elend an. Unser eigenes. Das Leben scheint so bedroht zu sein. Auf der Welt beweisen Horden von Idioten mit Gewehren, dass dumpfe Brutalität immer siegt. Mädchen werden in Nigeria entführt, Tote in der Ukraine behandelt wie Abfall, Frauen werden gesteinigt von IS-Leuten. Und warum tun die das? Weil sie es können. Weil sie laut sind, weil sie einen an der Waffel haben, weil sie keine Chancen hatten, Oberarzt zu werden, weil sie, who cares - weil Brutalität immer gewinnt, aber das sagte ich schon.
Ebola in Afrika. Ackermann im Aufsichtsrat einer Firma von Herrn Wekselberg, die Reichen, die immer reicher werden, der Mist, der stinkt. Wir sind nicht mehr anteilnehmend, unsere Nerven halten das nicht aus. Es scheint eine Zeit gekommen zu sein, in der jeder für sich schauen muss, damit er nicht untergeht, nicht entmietet wird, weil die Stadt sein Haus an einen Immobilientrust verscherbelt hat. Der Job nicht gekündigt wird, weil man mit über 40 zu alt ist. Die meisten sind am Rand ihrer emotionalen Mitleidensfähigkeit.
Was nützt dieses sich aufregen, das Taumeln durch all die Niederungen der Welt, die man im Minutentakt in sein System geschwallt bekommt. Wir können nicht mehr. Es kann sich auch keiner mehr um die Juden kümmern.
Wir haben keinen Einfluss darauf, was ihnen in Europa momentan geschieht. In Belgien oder in Frankreich. Aber der Wahnsinn betrifft auch uns. Hier in Deutschland, werden unsere Leute bedroht. Unsere Nachbarn, Steuerzahler, die Menschen, die einem über die Straße helfen oder zusammenhalten, wenn es eine Überschwemmung gibt.
Ein Teil unserer Bevölkerung ist nicht mehr sicher. Der Aufruf, sich zu verbergen, kann auch als "schließt euch am besten im Keller ein" gelesen werden. Verstecken vor wem? Und warum stehen so wenige für ihre Mitbürger auf? Warum lese ich in den vergangenen Wochen fast ausschließlich von Politikern mit einem muslimischen Hintergrund klare Stellungnahmen und nicht von deutschen Intellektuellen? Warum gelingt es, Tausende gegen einen Bahnhofsneubau zu mobilisieren, gegen Atommülltransporte, aber wenn es um den Nachbarn geht, erlahmt das Mitgefühl?
Ich will nicht mit diesem langweiligen Vergleich zum Nationalsozialismus kommen, aber ich muss. Es fing genauso an. Juden hatten Angst, sich zu erkennen zu geben, nur keinen falschen Satz zu sagen. Ihre Läden wurden zerstört. Den Rest kennen Sie. Es ist egal, ob es jüdische Menschen sind oder alle Schleswig-Holsteiner, alle Thüringer, die irgendwem nicht passen. Es sind nicht die anderen, die Fremden, die in Deutschland Angst haben müssen, es kann morgen Sie treffen, weil Sie homosexuell sind, oder geschieden. Oder weil Ihr Kind dunkle Haare hat, oder rote.
Man kann sagen, was nützt uns unser Schulterschluss, was nützen Proteste. Die Startbahn West wurde gebaut, der Atommüll rollte durchs Land, der Stuttgarter Park ist halb gerodet. Man kann sagen, es bringt nichts, aufzubegehren. Es gibt viele Gründe, sich nicht zu engagieren. Feigheit, Desinteresse, genug eigene Sorgen, absurde Vorurteile. Keiner zählt. Denn am Ende bleibt nur der Satz: Wir geben unsere Menschlichkeit auf.
Sibylle Berg
Sibylle Berg