Venezianische Challenge
Werde ich es schaffen, die 188 Filmminuten von Florian Henckel von Donnersmarcks Neuem durchzustehen, ohne in den bequemen Sesseln der Sala Grande rasselnd einzuschlafen? Das war meine ganz persönliche Challenge am dritten meiner drei Festivaltage in Venedig. Donnersmarcks „Das Leben der Anderen“ war 2007 Oscar-würdig gut gewesen, „The Tourist“ ging 2010 baden.
Der Filmbeginn auf war späte 21.30 Uhr angesetzt und alles schreckte ab: Überlänge zu deutscher Geschichte spät nachts. Mein Fluchtplatz in der fußfreien Reihe war also kein Zufall. Eine Stunde bleib ich, hatte ich mir vorgenommen, dann erlaube ich mir zu gehen, wenn ich mag. Dann kam alles anders.
Die Vorführung beginnt wegen des Roten Teppichs mit 30 Minuten Verspätung. Um 22 Uhr geht's Nach Dresden mitten ins Nazideutschland zu einer Ausstellung entarteter Kunst. Durch die Ausstellung führt Lars Eidinger, einer meiner Schauspiel-Favoriten. Er zeigt einem nickenden Publikum Bilder, die heute als großartig gelten. „Gell, das kannst du auch“, sagt er Beifall heischend zu einem staunenden Buben und erklärt, dass Kunst von Können kommt. Ich warte gespannt auf das, was Kurt und seine geliebte junge Tante Elisabeth noch alles erleben werden. Bei Elisabeth ist's leider nicht viel. Das Wenige ist aber umso heftiger. Elisabeth verhält sich nicht immer konform, gilt deshalb als „geisteskrank“, sie wird „als Beitrag zur Aufartung“ sterilisiert, später eliminiert. Die „Wächter des Erbstroms“ entscheiden das so. „Mein Stift, mein Schwert“, unter diesem Motto setzt Doktor Seeband die Unterschrift unter das Todesurteil. Dieser Seeband wird mich bis zum Ende des Films begleiten, das ahne ich schon. „Es gibt begrenzte Ressourcen auf dieser Erde. Wer soll die haben, die Kranken oder die Gesunden?“, fragt er. Einer der Sätze, die ich mir aufnotiere, weil sie zwar aus der Vergangenheit kommen, sich heute aber wieder erschreckend nah anhören.
Lassen wir's nicht gut sein. Es geht nicht darum, die 188 Filmminuten nachzuerzählen. Die führen durch die Jahre 1931, 1945, 1948, 1951, 1961, 1966 von Dresden über Berlin nach Düsseldorf und begleiten den Künstler Kurt Barnert und seine Frau Ellie genauso wie Professor Seeband, der „die eigene Blutlinie ausgelöscht hat“, weil er „alles so rein halten wollte“.
Paula Beer als Ellie, Tom Schilling als Kurt und Sebastian Koch als Professor überzeugen rundum. In den kleineren Rollen sind viele aus der besten deutschen Schauspielriege zu sehen.
Nach den 188 Filmminuten gibt es langen, tosenden Applaus, und ich bin immer noch hellwach. Dem Publikum scheint der Film gefallen zu haben.
Am Tag danach ist „Werk ohne Autor“ Publikumsliebling, liegt mit 4,7 Punkten von 5 möglichen in der Festival-Zeitschrift „Ciak“ an der Spitze der Wertung. Bei der Kritik reichen die 2,7 „Ciak“-Punkte nur bis ins Mittelfeld.
Der Kritik war wohl zu viel Konvention und zu wenig Kunst im Film. Denn „Werk ohne Autor“ setzt auf ein in allen handwerklichen Details hervorragend gemachtes Erzählkino, ein Kino mit einer Geschichte, die funktioniert, ein Kino, das was zu sagen hat und Menschen zeigt, die nahe kommen, und ein Kino mit fülligem Ton. Kino hat eben auch mit Können zu tun wie die Kunst und Können ist auch eine Frage der Definition.