Society | Sprachgruppen

„Wir haben uns aneinander gewöhnt“

Im Hinblick auf den Gesetzesentwurf zum Doppelpass könnten alte Wunden zwischen den Sprachgruppen wieder aufbrechen. Aber wurden diese überhaupt jemals geschlossen?
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Zweisprachige Wanderschilder
Foto: Salto.bz

Als Katalonien im Oktober 2017 Ernst machte mit den dort schon lange existenten Unabhängigkeitsbestrebungen, war der Aufschrei in Südtirol groß. Egal ob Befürworter oder Gegner des Abspaltungsplans der nordwestlichen Region Spaniens, ein jedem ging das Gleiche durch den Kopf: Kann das auch bei uns passieren?

Arno Kompatscher war es, der sogleich verkündete, die Situation in Katalonien sei mit Südtirol überhaupt nicht zu vergleichen. Mehr noch, das Land Südtirol sei in jedem Fall und gerne bereit, all die Erfahrung, die das Land in den vergangenen Jahrzehnten in den Bereichen Selbstverwaltung und Zusammenleben gesammelt habe, zur Verfügung zu stellen.

Aber wie viel „Erfahrung“ kann man unserem Land anrechnen, im Bereich Zusammenleben?
Der Duden beschreibt das Verb „zusammenleben“ als ein „sich im Laufe der Zeit, durch längeres Miteinanderleben aneinander gewöhnen“.
Verstehen wir das Wort Zusammenleben so, gebe ich dem Herrn Landeshauptmann vollkommen recht.

Wie soll sich beispielsweise ein deutschsprachiger Jugendlicher, der seit Jahren nur Gerede gegen die „Walschn“ hört, jemals eine eigene Meinung bilden, wenn er nie mit einem Gleichaltrigen der italienischen Sprachgruppe auch nur gesprochen hat?

Aber zum tatsächlichen Zusammenleben gehört viel mehr, als ein einfaches „sich aneinander gewöhnen“.
Denn man kann durchaus sagen, Deutsche, Italiener und Ladiner hätten sich inzwischen aneinander gewöhnt, hätten akzeptiert, dass sie eben gemeinsam in der selben Provinz leben.
Doch das als Zusammenleben zu bezeichnen, wäre unpassend und schlecht formuliert.

Die Distanz, die vor allem zwischen der deutschen und der italienischen Sprachgruppe immer noch herrscht, ist noch so präsent, dass man eine Leugnung derer fast als zynisch bezeichnen könnte.
Dieser Graben, der heute noch trennt und abgrenzt ist niemals vollends geschlossen worden.

Dass in Südtirol ein zumindest oberflächlicher Frieden zwischen den verschiedenen Sprachen angehörenden Menschen herrscht ist weder der Verdienst des Unterrichts der Zweitsprache in allen Schulen, noch jener des inzwischen so umstrittenen ethnischen Proporzes.

Danken, wenn man es denn so nennen will, kann man vielmehr einer altbewährten Taktik, die seit Jahrhunderten Konflikte beseitigt, aber nicht löst: dem Ausweichen. Mit nach Sprachen getrennten Kindergärten und Schulen wird schon den jungen Menschen jegliche Grundlage entzogen, sich mit Gleichaltrigen der anderen Sprachgruppen auszutauschen. Später färbt das auf das Erwachsenenalter ab, man kannte nie Menschen der anderen Sprachgruppe und will auch keine kennen, Punkt.
Diese Politik führt auch dazu, dass auf allen Seiten Vorurteile, die einem oft mit in die Wiege gelegt werden oder von Personen aus dem eigenen Kreis der Bekannten vermittelt werden, bestehen bleiben und nie richtig beseitigt werden können, da man selbst nie oder nur äußerst selten mit jemandem der anderen Sprachgruppen auf freundschaftlicher Ebene Kontakte gepflegt hat.

Wie soll sich beispielsweise ein deutschsprachiger Jugendlicher, der seit Jahren nur Gerede gegen die „Walschn“ hört, jemals eine eigene Meinung bilden, wenn er nie mit einem Gleichaltrigen der italienischen Sprachgruppe auch nur gesprochen hat?

Dieses ernsthafte Problem spiegelt sich dann vor allem in Kommunikationsschwierigkeiten wieder, welche später zwischen den Sprachgruppen bestehen bleiben und dazu führen, dass Parteien und Organisationen, die je nach Zielgruppe gegen die Deutschen oder Italiener hetzen oder nationalistische und antieuropäische Vorhaben, wie die doppelte Staatsbürgerschaft, überhaupt noch Zuspruch finden können.

Und trotz all dem hat man es seit Jahrzehnten, bis auf wenige, unnütze Maßnahmen (Stichwort CLIL-Unterricht), versäumt, den Austausch, die Konfrontation zwischen den Sprachgruppen zu fördern, frei nach dem Motto „Wenn man sich dem Konflikt entzieht, gibt es auch keine Schwierigkeiten“.
Ausgenommen einer einzigen: Weicht man einem Problem aus, ist es zwar nicht mehr präsent, existiert aber weiterhin ohne jemals gelöst worden zu sein.

Wie verheerend das sein kann, erkennt man an dem bereits genannten Problem Katalonien, wo die spanischen Regierungen das Thema Unabhängigkeit jahrzehntelang ignoriert und die Massen mit einigen erweiterten Kompetenzen zum Schweigen zu bringen versucht haben. Was daraus geworden ist, haben wir ja bereits gesehen.

Natürlich ist die Situation in Südtirol anders als im nordwestlichen Spanien, nichts läge mir ferner als zu behaupten, dass wir am Rande eines Bürgerkrieges oder Ähnlichem stehen, aber trotzdem sollten wir uns genau überlegen, was passieren kann, wenn die drei verschiedenen Sprachgruppen in diesem Land weiter nach dem „Wir-haben-uns-aneinander-gewöhnt-Prinzip“ zusammenleben.
Denn irgendwann können wir an den nie verschlossenen Wunden verbluten.