Parlamentswahlen in Marokko
Zum vierten Mal haben am 7. Oktober 2016 unter der Regentschaft von König Mohammed VI. Parlamentswahlen in Marokko stattgefunden. Sie sind die zweiten, die seit Inkrafttreten der neuen Verfassung vom Juli 2011 durchgeführt wurden und die zehnten seit der Unabhängigkeit Marokkos im Jahre 1956.
Mehr als 30 Parteien, 1410 Listen und 6.992 Kandidaten haben bei den Parlamentswahlen um die Verteilung der 395 Sitze gekämpft. Zur Wahl am Freitag waren knapp 16 Millionen Stimmberechtigte aufgerufen. Allerdings haben nur 43% der marokkanischen Wahlberechtigten von ihrem Recht Gebrauch gemacht, über die neue Zusammensetzung der ersten Kammer ihres Parlamentes zu befinden. Rund 4000 Beobachter, darunter 92 aus dem Ausland, überwachten den Urnengang.
Nach Angaben des marokkanischen Innenministeriums hat die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) mit 125 Sitzen ihre Mehrheit verteidigt und liegt vor der konkurrierenden liberalen Partei für Authentizität und Modernität (PAM), die dem Königshaus nahesteht: Sie kam auf 102 Sitze. Damit bildet sie einen großen oppositionellen Block. Die drittstärkste Fraktion sind die Konservativen der Unabhängigkeitspartei, die den Ergebnissen zufolge 46 Sitze errangen.
Die PJD regierte bisher in einer Koalition mit Kommunisten, Liberalen und Konservativen. Ihre Anhänger kommen vor allem aus der städtischen Mittelschicht, während sich die PAM besonders auf Bewohner der ländlichen Gebiete und die marokkanische Elite stützt. In ihrem Wahlkampf präsentierte sich die PAM als "Verteidigerin der bürgerlichen Freiheiten" und der Frauenrechte. Zugleich kritisierte sie eine schleichende Islamisierung der Gesellschaft. Die PJD unter Ministerpräsident Abdelilah Benkirane versprach ihrerseits, die begonnenen Wirtschafts- und Sozialreformen fortzusetzen.
Gemäß Artikel 47 der Verfassung wird der Regierungschef aus den Reihen der stärksten Partei vom König mit der Regierungsbildung beauftragt. Damit stellt nach jetzigen Informationen die PJD auch weiterhin den Premierminister der wohl wieder Abdelilah Benkirane heißen wird.
Marokko ist eines der wenigen arabischen Länder, das seit seiner Unabhängigkeit (1956) über ein Mehrparteiensystem verfügt. Die Parteiendemokratie und Alternance-Regierung (Wechsel zwischen Regierung und Opposition), sind seit jeher Teil des politischen Systems. Die Parlamentswahlen im Jahr 2011 markierten einen Wendepunkt für die parlamentarische Praxis und Regierungsarbeit im nordafrikanischen Königreich. So wurde erstmals auf der Grundlage der neuen Verfassung von 2011 ein Kandidat der stärksten politischen Kraft vom König zum Regierungschef ernannt und mit der Regierungsbildung beauftragt. Die langjährige Oppositionspartei, die konservativ-islamische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) konnte die meisten Stimmen für sich gewinnen und somit die Führung der Regierungskoalition übernehmen.
Die vergangene Legislaturperiode stellte sich als Probe für die ersten Regierungserfahrungen der PJD heraus. Bereits nach der ersten Regierungsumbildung im Oktober 2013 und der Umbesetzung von vier Ministerposten im Mai 2015 macht das Verhältnis zwischen den vier Koalitionsparteien trotz heftiger Kritik seitens der Opposition, einen relativ harmonischen Eindruck. Allerdings blieb die Regierung aufgrund unpopulärer Reformen, die oftmals an strenge Auflagen internationaler Finanzinstitute gebunden waren, von harscher Kritik seitens der Opposition, Gewerkschaften und Zivilgesellschaft nicht verschont. So wurde z. B. die Reform der Kompensationskasse durchgeführt, welche infolge des sukzessiven Abbaus der Subventionen für Grundnahrungsmittel und anderer wichtiger Produkte (Zucker, Mehl, Gas, etc.) und der damit einhergehenden Preisliberalisierung zu Preissteigerungen führte. Darüber hinaus erfolgte eine Reform der Rentenkasse und des Renteneintrittsalters (von 60 auf 63 Jahre) für Beamte. Das vollmundiges Versprechen der Regierung, der grassierenden Korruption im Königreich zu Leibe zu rücken, wurde in langwierigen und gewundenen Verhandlungsprozessen im Parlament zerrieben. Die Ankündigung, neue Arbeitsplätze zu schaffen, wurde zwar teilweise erfüllt. Aber die neuen Jobs reichen bei weitem nicht aus, um die Arbeitslosigkeit unten den vielen jungen Marokkanern zu drücken. Hinzu kommen die altbekannten Probleme im Bildungs- und im Gesundheitsbereich. Das Haushaltsdefizit konnte allerdings in der Legislaturperiode fast um die Hälfte reduziert werden (von 7,5% im Jahre 2012 auf aktuell 4,3% des BIP) und enorme Fortschritte wurden im Bereich der Umweltpolitik verzeichnet. Gerne wird auch die Effizienz der Regierungsarbeit an der legislativen Bilanz des Parlaments gemessen, insbesondere an der Ausarbeitung der in der Verfassung festgelegten Organgesetze, von denen bisher 75% angenommen wurden.
Die geringe Wahlbeteiligung von 43% hat erneut eines gezeigt: Das Vertrauen der Wahlberechtigten in die politischen Parteien ist nicht groß. Deutlich mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten machte sich nicht die Mühe, ihre Stimme abzugeben. Der Politikverdrossenheit der Marokkanerinnen und Marokkaner versuchte man bereits im Vorfeld der Wahlen entgegenzuwirken: Am 8. August endete die offizielle Frist für die im Radio, Fernsehen, und in den Online- und Printmedien stark beworbene Eintragung in die Wählerlisten. Sie konnte online oder bei den zuständigen Behörden erfolgen und ist für die Stimmabgabe verpflichtend. Bis zum 14. September konnten die Vertreter der politischen Parteien ihre Kandidatur einreichen. Um die politische Repräsentanz von Frauen zu stärken, konnten sich diese auf einer gesonderten Liste für „Frauen und junge Menschen“ aufstellen lassen. 90 der 395 Parlamentssitze sind für diese Kandidatinnen und Kandidaten reserviert, davon 60 Sitze für Frauen und 30 für junge Menschen. Tatsächlich scheint das Misstrauen gegenüber der politischen Führung allerdings groß zu sein und viele Politiker scheinen den Kontakt zur Bevölkerung verloren zu haben. Auch der Wahlkampf wurde teils sehr verbissen geführt. Gegenseitig warfen sich die Volksvertreter Vetternwirtschaft und Korruption vor. Selbst vor der Aufdeckung vermeintlich moralischer Verfehlungen wurde nicht zurückgeschreckt.
Marokko rühmt sich eine der ältesten Monarchien der Welt zu besitzen, und somit stellt sich auch immer wieder die Frage nach der Neutralität der monarchischen Institution. König Mohammed VI hat in Marokko eine starke Stellung und er ist Garant der nationalen Einheit. Deshalb ist die Monarchie – und vor allem der König auch so populär. Ein Paradoxon dieses Landes liegt allerdings darin, dass, während der König den Eindruck erweckt, über großen Reformeifer zu verfügen, es seine Entourage ist, die an ihrem über die letzten Jahrzehnte gewonnenen Reichtum und Einfluss festhalten will.Um die Neutralität der monarchischen Institution zu wahren, betonte der König im Vorfeld der Parlamentswahlen immer wieder seine Unabhängigkeit in innenpolitischen Angelegenheiten. So erklärte er anlässlich der Rede zum Thronfest am 30. Juli er sei „König aller Marokkaner, der Kandidaten, der Wähler und jener, die sich ihrer Stimme enthalten“ sowie „König aller politischen Formationen, ohne Diskriminierung und Exklusion“. Im Jahre 2013 machte er beim Bruch der Regierungskoalition von seinem Recht als „oberster Schiedsrichter zwischen den Institutionen“ (Art. 42 der Verfassung) keinen Gebrauch. Neben der Wahrung der monarchischen Neutralität wird auch die Unabhängigkeit der Religion gesetzlich geregelt. Durch ein königliches Dekret im Jahre 2014 ist die politische und parteipolitische Instrumentalisierung der Religion sowie jeglicher politische Diskurs von muslimischen Religionsgelehrten vor anstehenden Wahlen (sowohl nationale als auch kommunale und regionale Wahlen) untersagt worden. Ziel ist es, jeglicher Form der Radikalisierung in Moscheen und der Instrumentalisierung von religiösen Stätten für politische oder nicht-religiöse Zwecke entgegenzuwirken. Auch bleibt den marokkanischen Imamen jegliche Partei- oder Gewerkschafts- zugehörigkeit verwehrt.
Nach den gewonnen Wahlen steht der Wahlsieger nun vor schwierigen Koalitionsverhandlungen, denn alleine kann die PJD nicht regieren. Laut Verfassung benötigt die Regierung absolute Mehrheit der Sitze im Parlament. Der Parteisprecher der zweitstärksten Partei PAM machte unmittelbar nach Bekanntwerden des vorläufigen Wahlergebnisses klar, die PAM wolle sich auf gar keinen Fall an einer Regierung unter Ministerpräsident Benkirane beteiligen. Damit steht der Wahlsieger vor einer schwierigen Aufgabe: Wie schon in der vergangenen Legislaturperiode wird er eine Mehrparteien-Koalition bilden müssen. Welche Partner dafür in Frage kommen, ist momentan noch völlig offen. Benkirane stehen komplizierte Verhandlungen bevor. Die Bevölkerung erwartet von der kommenden Regierung sich den Defiziten im Bildungs- und Gesundheitswesen anzunehmen. Ebenso stehen tiefgreifende Reformen an um das eklatante Wohlstandsgefälle, die hohe Arbeitslosenrate, die Bürokratie und eine, im Vergleich zu regionalen wie internationalen Standards hohe Korruption in den Griff zu bekommen. Es gibt also viel zu tun.