Trauriges Jubiläum
Vor 100 Jahren, am 9. November 1921, schlossen sich die von Benito Mussolini gegründeten Kampfbünde fasci offiziell zur Partito Nazionale Fascista (PNF) zusammen. Die Verlagerung der Initiative von der paramilitärischen auf die politische Ebene war der erste Schritt zur Machtübernahme. Bereits ein Jahr später war Mussolini, mit Einverständnis der Chefs der größten Parteien, Segen des Papstes Pius XI. und Vereidigung durch König Vittorio Emanuele III. italienischer Ministerpräsident.
Hochzeitsreisende willkommen, Journalisten nicht
Freundliche Menschen, malerische Städte, immer gute Laune: So hatte sich Joseph Roth Italien vorgestellt. Seine Enttäuschung verarbeitete er in einer Reportagereihe – und schildert statt erwarteter Idylle den realen Alltag im Faschismus.
Der erste Schwarzhemdträger wartete gleich am Bahnhof. Joseph Roth war gerade dem Zug entstiegen, schon bot sich ihm ein handfester Eindruck, wie es sich unter einem totalitären Regime lebt. Die Wahrnehmung ist nicht so verschieden von der, die Eric Ambler ein Jahrzehnt später in seinem großartigen Roman Cause for Alarm (erschienen 1938; dt.: Anlass zur Unruhe) schildern sollte. Nur die Perspektive war eine andere: Amblers Romanheld ist auf der Flucht, Roth als Journalist aus eigenen Stücken unterwegs.
Die Kulisse aber ist dasselbe: Italien, eine faschistische Diktatur mitten in Europa. Keine andere hatte so lange Bestand: 21 Jahre; rechnet man die Republik von Salò mit, kommen nochmal zwei obendrauf. Im Herbst 1928 entflossen Roths Feder eine Reihe Reportagen, die er unter dem Titel Das vierte Italien zusammenfasste. Letzteres entsprach dem Selbstverständnis des Faschismus: Italien als wiederauferstandenes viertes Reich nach Mussolinis Machtübernahme, hervorgegangen aus den Ruinen des antiken römischen Imperiums, der Bedeutungslosigkeit während des Papsttums in Mittelalter und früher Neuzeit und dem versiegten Risorgimento des 19. Jahrhunderts.
Das zeitgenössische Italien empfindet Roth als „ein Land für Hochzeitsreisende“, aber „nicht für Journalisten“; für „Fremde mit unzweideutigem Interesse für die Vergangenheit, für Ruinen, Museen, den Lido und den Vesuv“, aber nicht für „Fremde mit einer Leidenschaft für die italienische Aktualität, mit einem Interesse für Pressefreiheit“ beispielsweise: „In Italien ist man darauf eingerichtet, es der harmlosen Gattung von Reisenden so bequem zu machen, wie es im Rahmen einer Diktatur überhaupt möglich ist; und es den anderen so unbequem zu machen, wie es nur im Rahmen einer Diktatur möglich ist.“
Anders Roth. Er gibt den italienischen Antifaschisten, die von Mussolinis Schergen bekämpft, isoliert und mundtot gemacht werden, eine Stimme.
Und wie sieht es in einer solchen Diktatur aus? Ans Rencontre mit dem Faschisten schließt sich ein zweites Erweckungserlebnis an, ebenfalls am Bahnhof. Die Stadt wird nicht genannt, vermutlich ist es Triest. Roths weitere Stationen waren Meran, Mailand, Rom, Neapel und Genua. Direkt bei seiner Ankunft in der Adriametropole muss sich Roth wie alle übrigen Reisenden bei der Bahnhofskommandantur melden. Eine solche Einrichtung, ebenso bürokratisch wie martialisch, kannte Roth bislang nur aus dem letzten Krieg; sie erscheint ihm beispielhaft für die militärische Durchdringung des Alltags im Faschismus. Jetzt fällt Roth auch auf, wie viele Menschen in Uniform an diesem Bahnhof unterwegs sind. Und, noch schlimmer, „alles ist bewaffnet.“
Das beklemmende Gefühl setzt sich fort, sobald Roth ins Freie tritt. Er fühlt sich beobachtet, kann keinen Schritt tun, ohne dass es jemandem auffallen würde und sich ein misstrauisches Augenpaar in seinen Nacken bohrt. Oder ist es doch eher der Verfolgungswahn, unter dem Roth leidet? Roth ist sich dessen bewusst, dass hier nur „der erste – und notwendigerweise oberflächliche – Eindruck“ vorliegt. Aber dieser Eindruck will partout nicht weichen.
Der Beobachter hat seine Sinne entsprechend justiert, der Journalist bewahrt ein kritisches Bewusstsein der eigenen Sehschärfe. Roth registriert weitere Merkwürdigkeiten: „Es bedarf keiner besonderen Beobachtungsgabe, um neben den Uniformen auch Polizeispitzel in Zivil wahrzunehmen“, notiert er und findet: „Diese Spitzel scheinen selbst eine naive Freude an ihrer Auffälligkeit zu finden. Ihre Methode ist nicht Bewachung, sondern Einschüchterung.“
Offenbar funktioniert sie; nicht nur bei Roth selbst: „Der italienische Bürger fürchtet den Zeitungshändler an der Ecke, den Zigarettenverkäufer und den Friseur, den Portier und den Bettler, den Nachbarn in der Straßenbahn und den Schaffner. Und der Zigarettenhändler, der Friseur, der Nachbar und der Schaffner fürchten sich untereinander.“
Es folgen weitere Alltagsbegegnungen, die seine anfänglichen Beobachtungen bestätigen. Roth fallen die vielen Paraden Uniformierter, etwa der faschistischen Jugendorganisation, in den Straßen auf. Dasselbe Phänomen beobachtet später übrigens auch Ambler. Die Umzüge sind aufdringlich, laut und scheinen die Umstehenden zum Mitmachen aufzufordern. Märsche werden getrommelt und geblasen, Stiefelabsätze bohren sich rhythmisch in den Asphalt, begleitend erklingt das martialische Eja eja alalá aus der letzten Zeile der Giovinezza, der Hymne der Mussolinipartei.
Rings um die Paraden herrscht Stille. „An den Straßenrändern bleiben Neugierige stehen“, bemerkt Roth: „Sie sind schweigsam. Sie erwidern die Kriegsrufe der Marschierenden nicht.“ Roth ist Journalist, seine Beiträge schreibt er für die Frankfurter Zeitung, seine Artikel werden in Deutschland gelesen. Auch dort marschieren Paramilitärs, freilich sind die Braunhemdenträger der SA noch nicht im Regierungsauftrag unterwegs. Ein halbes Jahrzehnt wird noch vergehen, bis ihre Bewegung die Macht übernimmt. Roth kann das nicht wissen, er kann es sich nur denken. Als politischer Mensch sieht er seinen publizistischen Auftrag auch darin, die Deutschen vor einer ähnlichen Entwicklung zu warnen und sie zu mahnen, nicht zu schweigen und nicht stillzuhalten – so wie Ambler nach Ablauf eines weiteren halbes Jahrzehnts und dem Triumph der faschistischen Staaten auf der Münchner Konferenz die schweigenden und stillhaltenden Westmächte mahnte, nach dem Verrat an der Tschechoslowakei nicht noch weitere Demokratien im Stich zu lassen.
Nach den italienischen Militärs und Paramilitärs nimmt sich Roth die Zivilisten vor. Der erste, mit dem er längere Zeit zu tun hat, zeigt sich an der Rezeption seines Hotels. Es ist der Portier, seine „professionelle Freundlichkeit mischt sich mit jener schlecht verhehlten Neugier, die den mittelmäßigen Spitzel verrät. Er ist nicht dazu geboren, der Polizei Dienste zu leisten. Er ist – er sagt es selbst – seit zwanzig Jahren im Hotelgewerbe, er war noch in einer Zeit Hotelportier, in der jeder Fremde in Italien nur ein Gast war, kein Gegenstand behördlicher Zweifel.“
Roths Reportagen sind gleichnishaft, die Ortlosigkeit steht für die Ubiquität der faschistischen Diktatur.
Roth stößt sauer auf, dass er gleich nach seiner Ankunft den Reisepass abgeben muss. Das beraubt ihn noch mehr seiner ohnehin schon eingeschränkten Freiheit. Roth lässt Zahlen sprechen, mit Quellenangabe: „Nach den Mitteilungen Mussolinis (am 26. Mai 1927) gibt es im faschistischen Italien: 60 000 Gendarmen, 15 000 Polizisten, 5000 Polizisten in Rom, 10 000 Mann der Eisenbahn-, der Post- und Telegraphen-Miliz.“ Geht doch noch, könnte man angesichts der heutigen Kräfteverhältnisse einwenden. „Dazu kommen“, setzt Roth noch einen drauf, „die Grenz-Miliz und 300 000 Mann der freiwilligen Faschisten - Miliz ‚für die nationale Sicherheit‘. Allein schon die Existenz dieser Streitkräfte würde genügen, die persönliche Freiheit des italienischen Staatsbürgers zu beschränken. Aber es gibt die faschistischen Gesetze, die sie vollkommen aufheben.“
Es fällt auf, dass Roths sämtliche italienischen Reiseberichte ohne Ortangabe sind. Kafka hat dies in seinen Werken fast immer so gehalten. Auch Roths Reportagen sind gleichnishaft, die Ortlosigkeit steht für die Ubiquität der faschistischen Diktatur. Was sich heute in Italien abspielt, kann sich morgen schon in Deutschland ereignen. Oder in Österreich. Dazu möchte Roth nicht schweigen. Er fasst sich an die eigene Nase und hinterfragt kritisch die Rolle der Presse: Der „italienische Journalist ist kein Journalist mehr“, konstatiert er mit einer Mischung aus Bedauern und Entsetzen. „Er darf nicht nur nicht schreiben, was er will, er muß theoretisch so geartet sein, daß er gar nicht in die Lage kommt, etwas Verbotenes schreiben zu wollen. Als ein konsequenter Ja-Sager begleitet er die Verordnungen, Verfügungen, Entschließungen, Maßnahmen der Regierung.“
Anders Roth. Er gibt den italienischen Antifaschisten, die von Mussolinis Schergen bekämpft, isoliert und mundtot gemacht werden, eine Stimme. Wenn schon nicht in Italien, so Roths Zuversicht, wird sie im Ausland gehört werden. Die Hoffnung trog. Die Frankfurter Zeitung druckte nur vier seiner Berichte. Selbst diese erschienen stark verkürzt, zudem redigiert und ohne Verfassernennung. Nach seiner vierten Reportage, in der er sich die italienischen Presse vorknöpfte und mit deren Vertreter, die sich seiner Meinung nach dem faschistischen Regime gegenüber viel zu subaltern und willfährig verhielten, hart ins Gericht ging, wurde Roth aus Italien abgezogen. Er solle, beschied man ihm in der Redaktion, seine Haltung noch einmal überdenken. Statt sich an die eigene Nase zu fassen, hatte Roth diese endgültig voll und reichte seine Kündigung ein.
Es sollte keine endgültige sein, das Tischtuch zwischen ihm und der Frankfurter Zeitung war nie ganz zerschnitten. Zumal dort der Freund und Kollege Benno Reifenberg saß. Als Roth jedoch im Januar 1933 ins Exil ging und Reifenberg sich entschloss, in Nazideutschland zu bleiben, brach Roth sofort die Beziehung: „Menschen, die ihre Ehre vernachlässigen“, ließ er dem Ex-Kumpel ausrichten, „sind nicht mehr meine Freunde.“
Der Korrespondent Joseph Roth sieht genauer hin als viele begeisterte Reisende, die in Mussolinis Italien so etwas wie eine Wiederauferstehung des alten Roms [sic!] zu erkennen glauben.
Roths italienische Reportagen sind versammelt in dem von Petra Herczeg und Rainer Rosenberg zusammengestellten Band Joseph Roth auf Reisen, Wieser Verlag, Klagenfurt/Celovec. Die umfangreiche Palette hervorragender Artikel liefert den Beweis, dass sich der Journalist und Feuilletonist nicht hinter dem Romancier Roth verstecken muss. Was nur mag die Herausgeber geritten haben, ausgerechnet bei den Italientexten Roth noch ärger in die Parade zu fahren als Wieland die Frankfurter Zeitung? Die vierte Reportage vom 22. Dezember 1928 über das Versagen der italienischen Presse fehlt komplett! Eine sehr gute Studie zu Roths politischem und Feuilleton-Journalismus stammt von Philipp Leson: Die Reisereportagen Joseph Roths, Dissertation, Philipps-Universität Marburg 2016. Schließlich sei auf Wilhelm von Sternburg, Joseph Roth, Kiepenheuer und Witsch Verlag verwiesen. Es ist die aktuellste und umfangreichste Biographie über Roth. Über die italienischen Reportagen schreibt Sternburg: „Der Korrespondent Joseph Roth sieht genauer hin als viele begeisterte Reisende, die in Mussolinis Italien so etwas wie eine Wiederauferstehung des alten Roms [sic!] zu erkennen glauben.“
Joseph Roth war nicht nur ein
Joseph Roth war nicht nur ein begnadeter Schriftsteller, sondern er hatte auch die Gabe, die Gefahr des Faschismus rechtzeitig zu erkennen. Hingegen war ein Schriftsteller wie Carl Zuckmayer anfangs noch vom Faschismus fasziniert, und selbst ein Stefan Zweig sah Mussolini immer noch positiv.