Society | Salto Gespräch

„Konnte an nichts anderes denken“

Die Zahl junger Menschen mit Essstörungen hat sich seit der Pandemie erhöht. Ein Mädchen und ihre Mutter geben Einblick.
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Foto: I Yunmai on Unsplash
Ein 17-jähriges Mädchen aus Bozen ist diese Woche gemeinsam mit ihrer Mutter in die Redaktion von salto.bz gekommen, um über ihre überstandene Essstörung zu sprechen. Eine wichtige Hilfe war für sie die Villa Eèa. Das Zentrum für Essstörungen wurde heuer im April eröffnet. Heute geht C.B. regelmäßig zur ärztlichen Kontrolle und zur Psychotherapie. Mutter und Tochter wirken gefasst und voller Energie, als sie das Büro betreten. Im veröffentlichten Interview ziehen sie es vor, anonym zu bleiben.
 
salto.bz: C.B., wie hat sich bei dir die Essstörung angekündigt?
 
Tochter: Die ersten Symptome haben sich bei mir in der ersten Klasse der Oberschule gezeigt, in der zweiten Klasse haben sie sich sehr verschlimmert. Die ersten begünstigenden Faktoren für die Essstörung entwickelten sich im Rückblick in der Mittelschule, in der Oberschule kamen welche dazu.
 
Wieso ging es dir so schlecht?
 
Tochter: Meine Gedanken, Gewicht zu verlieren, wurden immer stärker und ich konnte an nichts anderes mehr denken. Ich verlor immer schneller an Gewicht und ich wollte noch mehr verlieren. Nach ungefähr einem Jahr erkannte ich, dass ich nicht so weitermachen konnte.
 
Hast du viel Sport gemacht oder sehr wenig gegessen?
 
Tochter: Beides.
 
Wie kam es zu Diagnose der Essstörung?
 
Tochter: Wir haben uns an die Fachstelle für Essstörungen Infes vom Forum Prävention gewandt. Dort bin ich auf eine Psychologin getroffen, die sich sofort bereiterklärte, mich und auch meine Eltern zu unterstützen. Wenig später wurde ich ambulant behandelt mit zwei bis drei Besuchen pro Woche und traf auch die Psychologin einmal die Woche. Ein paar Monate später bin ich die Villa Eèa gegangen.
Gerade aber soziale Medien spiegeln nicht immer die Wahrheit wider.
Frau V.B., wie ist es für Sie, den Krankheitsverlauf Ihrer Tochter zu begleiten?
 
Mutter: Ich hatte in meiner Jugend eine Freundin, die dieselbe Krankheit erlitten hat. Ich habe angefangen, ähnliche Symptome an meiner Tochter zu beobachten. Solange das Gewicht noch akzeptabel war, habe ich es eher ausgeblendet. Als ich merkte, dass dieses Thema immer mehr Raum in den Gedanken meiner Tochter einnahm, habe ich bei Infes um Rat gesucht. Sie haben dann auch mit meiner Tochter gesprochen und in der Tat kam heraus, dass wir etwas unternehmen mussten.
 
 
Hatten Sie das Gefühl, dass Ihnen geholfen wird?
 
Mutter: Ja, wir hatten das Gefühl, uns ihnen anvertrauen zu können und meine Tochter wollte gleich mit ihnen zusammenarbeiten. Ihre Bereitschaft und unser Eingreifen waren sehr wichtig für die Behandlung der Essstörung.
 
Wie waren deine Erfahrungen bei der Villa Eèa?
 
Tochter: Ich bin dort hingekommen, als die Einrichtung gerade erst aufgemacht hatte. So hatte ich die Möglichkeit, diesen Platz wachsen zu sehen. Er hatte anfangs noch nicht einmal einen Namen. Zu Beginn war ich mit zwei Jungs dort und von Woche zu Woche kamen Neue dazu. Die Hälfte der Leute waren erwachsen, sie waren 20 oder 30 Jahre alt. Später waren wir nur noch Teenager. Wir gingen in die Schule und gingen um 13 Uhr hin, um Mittag zu essen und unseren Nachmittag dort zu verbringen. Je nach Bedarf konnte man dort auch übernachten. Ich besuchte die Einrichtung dreimal die Woche und blieb bis zum Nachmittag.
Die Gesellschaft von heute erwartet von einer Frau, dass sie immer schön und mager ist.
Was waren dort deine schönsten Erfahrungen?
 
Tochter: Die schönsten Erfahrungen waren für mich sicherlich, andere Mädchen kennenzulernen, die dieselbe Sache erlebten. Denn sie verstanden wirklich, was in mir vorging, auch wenn meine anderen Freundinnen versuchten, sich in mich hineinzuversetzen. Es war für mich hilfreich, assistierte Mahlzeiten mit der Diätistin einzunehmen. Die ist immer da, um dich zu informieren und mit dir die nächsten Schritte zu besprechen. Ich wusste auch, dass die Diätistin den Teller zusammenstellt. So hatte ich die Sicherheit, dass eine Expertin sich um meine Ernährung kümmert. Außerdem lernte ich viel über eine ausgewogene und gesunde Ernährung, was mir auch später noch hilfreich ist.
 
Was stand nachmittags üblicherweise auf dem Programm?
 
Tochter: Es gab Treffen mit den Diätistinnen, die uns bei unserer Ernährung beraten haben. Mit den Psychologinnen besprachen wir unsere Gefühle und nächsten Ziele. Es waren auch kleine Ziele für das alltägliche Leben. Zum Beispiel war ein Ziel, in der Klasse mit den anderen zu sprechen und sich nicht vor dem Handy zu isolieren. In diesen Treffen tauschten wir uns regelmäßig aus und halfen uns gegenseitig. Später kamen auch andere Aktivitäten dazu, wie Kunsttherapie oder Yoga.
 
 
Welche Ratschläge würdest du Betroffenen geben?
 
Tochter: Es ist auf jeden Fall wichtig, sich jemandem anzuvertrauen. Die Leute, die dort sind, die wollen dich nicht sabotieren oder dich zu etwas bringen, was du nicht willst. Denn die Veränderung kommt hauptsächlich von dir selbst. Die Menschen dort wollen dir also nur helfen. Dann ist sicherlich wichtig, ehrlich mit den Menschen aus deinem Umfeld zu sein, mit deiner Familie und deinen Freunden. Es bringt nichts, so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Denn nur so können sie wissen, wie sie uns helfen können.
 
Möchten Sie etwas hinzufügen, Frau V.B.?
 
Mutter: Der Eintritt in die Villa Eèa fand in einem sehr schwierigen Moment statt. In einem Moment, wo die Dinge immer schlechter zu gehen schienen und die ambulante Behandlung nicht mehr ausreichte. Ihr Gewicht und ihr depressiver Zustand verschlechterten sich weiter. Wäre sie nicht in die Villa Eèa gegangen, hätte sie vielleicht stationär aufgenommen werden müssen.
 
Was macht die Behandlung aus Ihren Augen erfolgreich?
 
Mutter: Meiner Meinung nach ist die Kommunikation zwischen den Experten, der Schule und in der Familie sehr wichtig, um einen Fortschritt zu erzielen. Es ist Teamarbeit notwendig, denn ein junger Mensch schafft es nicht, hier alleine rauszukommen. Dafür braucht es das Vertrauen in die Experten, denn es (die Behandlung von Essstörungen, Anmerkung d. R.) ist eine völlig fremde Welt.
So hast du dich total verloren gefühlt und es war schwer, sich eine Zukunft vorzustellen.
Oft fällt es Menschen aber schwer, sich und anderen einzugestehen, dass sie ein Problem haben.
 
Mutter: Die Gesellschaft von heute erwartet von einer Frau, dass sie immer schön und mager ist. Der psychologische Aspekt wird dabei wenig beachtet.
 
Während der Pandemie haben sich viele junge Menschen mit ihrem Körper und ihrem Aussehen intensiv beschäftigt. Trifft das auch auf dich zu und wieso?
 
Tochter: Ich lernte im Zentrum (Villa Eèa, Anmerkung d. R.) mindestens 20 junge Mädchen und Jungs kennen. Drei Viertel davon sagten, dass sie ihre Essstörung unter anderem auch wegen dem Coronavirus entwickelt hatten. Bei mir war es auch so. Die Faktoren dafür waren schon davor da, aber die Pandemie hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Denn sie hat dazu geführt, dass man sich in sich selbst verkroch und mit der Außenwelt nur noch über soziale Medien kommuniziert. Gerade aber soziale Medien spiegeln nicht immer die Wahrheit wider.
 
Was könnte die Politik bei einer neuen Pandemie besser machen?
 
Tochter: Die Schule war während der Pandemie sehr schlecht organisiert, obwohl die Schule der Mittelpunkt der Jugendlichen ist. So hast du dich total verloren gefühlt und es war schwer, sich eine Zukunft vorzustellen. Ich besuchte nicht einmal die Hälfte der Stunden, die ich normalerweise in der Schule verbrachte. Ein anderer Punkt ist meiner Meinung nach die Möglichkeit, auch alleine hinauszugehen. Denn im Haus zu bleiben, hilft auf psychologischer Ebene gar nicht. Bereits die frische Luft hilft schon sehr viel.
 
Mutter: Dass man zuhause bleiben musste, hat sicher bei vielen Panik und negative Gefühle ausgelöst. Wenn keine Schule ist, ist das ein kritischer Moment. Fühlt man Unsicherheit, hat Probleme und die Welt steht still, dann ist das nicht hilfreich.
 
 
Es gab zu viel Freizeit.
 
Mutter: Genau. Vor allem für die 14- bis 18-Jährigen waren die Verbote schlimm, weil sich in dieser Phase des Erwachsenwerdens alles darum dreht, hinauszugehen und die Welt zu entdecken. Die Jüngeren nahmen die Lockdowns vielleicht spielerischer auf, die Älteren wussten mit der freien Zeit umzugehen, aber die 14- bis 18-Jährigen wurden in ihrer Verwirrung und Neugierde alleine gelassen.
 
Die sozialen Medien und der Hang, dort nur schöne Seiten des eigenen Lebens zeigen zu wollen, haben auch negative Folgen für die Psyche. Wie könnte man das ändern?
 
Tochter: Es ist wichtig, neben den schönen auch alltägliche und schwierige Momente zu teilen. Ich habe beispielsweise auf Instagram ein Profil erstellt, wo ich meine Geschichte der Essstörung beschreibe, und fand dort viele Leidensgefährtinnen. Ich hatte das Gefühl, sie wirklich kennenzulernen, obwohl ich nur mit ihnen geschrieben habe.