Culture | Salto Afternoon

Mundtoter Hamlet

Was bleibt von „Hamlet“, wenn der Text nicht mehr derselbe ist und wir den Prinzen von Dänemark fast stumm eine Dreiviertelstunde als Spielball seiner Dämonen erleben?
Hamlet Puppet
Foto: Privat
Im Stück „Hamlet Puppet“ - zwischen Tanz, Theater und Performance - von und mit Michela Lucenti, schlüpft die Erscheinung in Weiß in die Rolle einer Erzählerin, des toten Vaters von Hamlet und in jene der Sprecherin assoziativer Textfragmente. Wenngleich der Abend (fast) ihr Monolog ist, windet sich im Hintergrund der Tänzer Michele Calcari im Pelzmantel. Er ist der von Geistern oder Wahnsinn geplagte Königssohn, welcher seinem Leid in ausufernden Spasmen Ausdruck verleiht. Das Gastspiel des Balletto Civile im Teatro Cristallo am gestrigen Abend wird auf der Bühne abgerundet durch das live ausgeführte E-Gitarrenströmen von Paolo Spaccamonti (Musikalische Beratung: Valerio Vigliar, Musikalische Bearbeitung: Paolo Panella).
Vielleicht hatte das doch eher bescheidene Interesse etwas damit zu tun, dass das Stück im Rahmen der „Corpi Eretici“ schwer einzuordnen ist. Vor Ort war dies sein Reiz: Im auf ein Minimum reduzierten Licht (Andrea Gallo) praktizieren alle drei mehr eine Gleichzeitigkeit als direkte Interaktionen. Deutungsebenen laufen parallel ab und an der Bühnenrückwand sind hypnotische Makrovideos in Schwarz-Weiß zu sehen (Girogina Pi), welche im Zusammenspiel mit Spaccamontis verzerrter Geräuschmusik an Musikvideos von „Bauhaus“ erinnern. Was man sieht, ist abgründig, düster und deutungsoffen, scheint teils alt und teils auf alt gemacht.
Auf textlicher Ebene verlässt sich Michela Lucenti hauptsächlich auf ihre Stimme, der Transport des Rohtexts ins Italienische und in den neuen Rahmen ist radikal: Anleihen, die Bilder aus dem Shakespeareschen Original übernehmen, treffen auf vollkommen Neues und Fremdes. Es wird gesprochen und gesungen, mit fließenden Übergängen und unklaren Grenzen. Der Geist von Hamlets Vater ist abwechselnd der verstorbene König Dänemarks und ein reuevoller Vater in der Jetztzeit, der nach dem Einkauf im italienischen Discounter eine Zigarette aus dem Fenster seines Familienautos raucht. Auch gibt Lucenti der Erscheinung durch ihre bloße Präsenz, im weißen, wallenden Gewand eine androgyne Note: Der Vater erhält auch etwas von einer Mutter.
Dem Tänzer, Calcari, der unter dem Mantel lediglich Slip trägt und dies im Laufe des Abends, sich aus dem Mantel schälend, zeigt, bringen dabei all seine Muskeln nichts: Sein Körper ist jener eines griechischen Helden, Sehnen und Muskel treten hervor, es ist kein Gramm Fett an ihm zu finden. Dabei ist die ihm gestellte Prüfung keine physische: Das Bild des klassizistischen, männlichen Heldenkörpers kippt ins Lächerliche, ist doch all diese Kraft auf einen engen Handlungsspielraum beschränkt: Calcari bewegt sich auf der Oberfläche eines Tisches und nur auf dieser. Der kraftvolle Körper ist nutzlos, spielt sich Hamlets Ringen mit dem Geist des Vaters und sich selbst doch auf einer anderen Ebene ab. Ein Ausbruch, wie auch die größere Bewegungsfreiheit von Lucenti bleiben ihm verwehrt.
 
 
Calcari bewegt sich wie fremdgesteuert, als Marionette. Besonders eindrücklich ist dies in den wenigen Szenen in welchen Lucenti direkt mit ihm interagiert (nie umgekehrt): Sie singt in einem Ausbruch von „Klang und Wahn“ - um „Macbeth“ zu bemühen - unter mehreren Schichten elektronischer Verzerrung mit drei leicht zeitversetzten, dämonischen Stimmen, die Gitarre braust auf und wir bewegen uns bei der Lautstärke am Rande des Erträglichen. Aus ihrem/seinem Mund das Wort „fallen“ und er fällt. Wieder und wieder, hart und genau aufs Stichwort. Die Wirkung ist tragikomisch und dieses Machtgefälle spiegelt sich auch in den letzten beiden Handlungen wider, welche der Performer und die Performerin auf der Bühne setzen.
Michela Lucenti greift zu einem weißen Faltfächer, durchbricht die eigene Stasis und zeigt in der Mitte des Bühnenraums kraftvolle Gesten, zwischen der Eleganz einer Geisha und dem kriegerischen Charakter eines Hakas. Jedesmal wenn sie ruckartig den Fächer öffnet, folgt ein Geräusch, das dem Nachhall eines Pistolenschusses ähnelt und stampft sie auf, so donnert es. Anbei schließt sie eine Klammer, schmiert sich Kunstblut auf eine Wange, welches sie zu Beginn des Stückes abwischte.
Michele Calcaris „Endspurt“ ist ein Auf-der-Stelle-Treten, er läuft und läuft, wie auf einem Laufband, immer wieder stürzend und sich immer wieder aufrappelnd. Auf den Lippen hat er dabei, in Grammelot (man denke an die Kunstsprachen Dario Fos oder an Chaplins „Great Dictator“) den lange verwehrten Monolog, ohne welchen es keinen Hamlet zu geben scheint. Hier steht das berühmte „Sein oder Nichtsein“ am Ende statt zu Beginn, aus der Mischung verschiedener Sprachen, Dialekte und Nonsens erkennt man einzelne Fetzen, die reichen, um sich zu orientieren. Bedeutung hat das Stammeln des Prinzen und sein sich zusehends sinnloser gestaltender Widerstand keine. Keine Macht den Lebenden und alle Macht den Toten. Was blieb bei dieser ebenso dichten wie radikalen Umdeutung des Hamlets? Sein Schmerz.