Society | Anderssein

Hochbegabt? Ja, aber ein ganz normaler Junge

Martin ist begabt, oder einfach nur besonders? Die Geschichte einer Südtiroler Familie, die fordert: „Mehr Toleranz für alle.“

Martin ist ein Kind wie alle anderen. Er spielt gerne. Er lernt gerne. Er will gesehen werden. Gleich und doch besonders. Aber sind wir das nicht alle – irgendwie? „Ja, ich hätt mir manchmal schon mehr Toleranz gewünscht“, sagt Andrea, seine Mama. Andrea ist Chemikerin, hat neben Martin, der jetzt 10 Jahre alt wird noch zwei Kinder. „Meinem Mann und mir war es von Beginn an wichtig, uns mit den Kindern bewusst auseinander zu setzen. Natürlich dürfen sie auch manchmal fernseh schauen. Aber ja, wir haben die Kinder schon gefördert.“

Anonym begabt
Martin ist begabt. „Das Wort hochbegabt will ich erst gar nicht in den Mund nehmen“, sagt Andrea. „Er nimmt rasch auf, ja, er ist sehr interessiert, hat ein gutes mathematisches Gedächtnis. Aber auch Freunde sind im wichtig. Und Sport. Er spielt sehr gerne Eishockey.“ Martin ist jetzt in der vierten Klasse, sein Name ist verändert*. Wohnen tut er da, wo alle wüssten wer er ist, würde man seinen richtigen Namen schreiben. „Lieber keine namentliche Nennung“, sagt seine Mutter, die selbst Lehrerin ist. „Ich weiß, dass das in der Schule nicht so gut ankommt.“

Einen kritischen Beitrag aus der Süddeutschen Zeitung zum Thema "Hochbegabung" lesen Sie hier.

Sicher, es gibt Kinder, die in bestimmten Bereichen fitter sind als ihre Mitschüler, eine höhere Auffassungsgabe haben - aber gleich von Hochbegabung zu sprechen? Und deswegen alles andere schleifen zu lassen? Ich verstehe den Beschützerinstinkt von Eltern, aber sie tun ihren Sprösslingen damit keinen Gefallen. Natürlich ist es ihre Aufgabe, die Begabungen und Interessen ihrer Kinder zu fördern. Aber diese gezielte Förderung sollte nicht auf Kosten der allgemeinen Schulbildung gehen.

Schulfreude, Schultränen
Dabei spricht Andrea auch von „guten Erfahrungen in der Schule“, aber nicht nur.  „Die Lehrer haben bald gesagt, dass sie es mit einem Kind wie dem Martin noch nie zu tun hatten. Ja, die Lehrer waren überfordert.“ Schon im Kindergarten war irgendwann klar: Martins Rhythmus ist ein anderer. „Er hat sich früh für Zahlen und Buchstaben interessiert, da war natürlich unsere Überlegung ihn früher einzuschulen, wovon uns dann aber die Kindergärtnerinnen abgeratet haben. Sie haben gesagt, er spielt ja so gerne.“
Martin wartete mit Spannung auf den ersten Schultag, konnte es kaum erwarten endlich mehr erfahren, mehr lernen zu dürfen. „Es war dann sehr frustrierend für ihn, denn er konnte ja bei Schuleintritt schon lesen und rechnen. Nach einer Woche hatte er keine Lust mehr auf Schule, wusste nicht mal seine Hausaufgaben. Und musste wochenlang mit den anderen die Anlauttabelle durchgehen. Irgendwann hatte ich jeden Morgen ein weinendes Kind vor mir, das gesagt hat, es wolle nicht mehr in die Schule.“

Irgendwann hatte ich jeden Morgen ein weinendes Kind vor mir, das gesagt hat, er wolle nicht mehr in die Schule

Stolz sein? Förderung verlangen?
Martin verweigert sich
,  „zwei Wochen hab ich ihn unter Tränen und mit Gewalt in die Schule gezwungen. Irgendwann haben wir verstanden, er ist unterfordert, gelangweilt, ja.“ Darf man das sagen? Darf man Förderung für das Kind verlangen? Ohne schief angeschaut zu werden?
Andrea sagt, dass es ja eigentlich „nichts schlechtes ist, wenn Kinder gerne lernen. Es ist ja auch ein Vorteil für uns Eltern, seine Hausaufgaben macht Martin immer allein.“ Stolz sein, auf das Kind, auf die Leistungen, auf die Freude beim Lernen, ist das legitim? Blöde Sprüche auf dem Spielplatz überhört Andrea gerne, angenehm ist es weder für sie und noch weniger für ihren Sohn. „Der Martin braucht eh nix zu lernen, weil er ein Streber ist, das hört man schon immer wieder.“

Hilfe von außen
Stete Auseinandersetzung mit ihren Kindern, das gehört für die Familie Tratta dazu. "Beim Essen zum Beispiel, da will Martin von uns wissen, wie das Universum entstanden ist.“ Auch das sind Grenzerfahrungen für die Eltern, „da hat es gut getan, Unterstützung von außen zu bekommen. Irgendwann sind wie auf die Stelle für Begabtenförderung aufmerksam geworden, haben die Siglinde Doblander getroffen, die den Martin dann auch in der Klasse besucht und ihn beobachtet hat.“

Martin ist ehrgeizig, trifft sich gerne mit Freunden, spielt Lego, ist ein aufgeweckter, kleiner Junge. Seit Siglinde Doblander, im Schulamt zuständig für die Begabtenförderung, den Lehrern Tipps gegeben hat, läuft in der Schule vieles leichter. Andrea ist erleichtert: „Sie hat den Lehrern gesagt, was Martin braucht. Welche Arbeiten sie ihm geben können. Im letzten Jahr stand es zur Debatte, dass er das Schuljahr überspringt. Für uns kam das nicht in Frage, vom Sozialen her hätte er das nicht überstanden.“ Auch Martins Schwester ist schon eingeschult, sie besucht die zweite Klasse. „Bei ihr haben wir gleich auf Frau Doblanders Rat gehört, und sie früher eingeschult. Sie tendierte auch mit fünf schon dazu lesen lernen zu wollen. Hat eine hohe Merkfähigkeit.“ Den Fehler wie bei ihrem Sohn Martin wollten Andrea und ihr Mann nicht mehr machen. Sie haben sich gegen die Gesellschaft gestellt. Auf ihre Kinder gehört. Das braucht Kraft und Mut. Irgendwie vielleicht auch Ehrgeiz, bestimmt aber Vertrauen. In die Fähigkeiten der Kinder.

* Die Namen der gesamten Familie von Martin sind salto.bz bekannt, wurden aber alle verändert.