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Wie gerecht kann Sprache sein?

Wenige Bemühungen für mehr Geschlechtergerechtigkeit spalten derart wie das Gendern. Nützt es der Sache der Frauen oder schadet es in weit größerem Ausmaß unserer Sprache?
Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
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Foto: unibz/Oscar Diodoro

Ein Streitgespräch mit den Sprachwissenschaftlerinnen Elena Chiocchetti (Eurac Research) und Stephanie Risse (unibz) sowie der Verantwortlichen für Sprachangelegenheiten der Provinz Bozen, Anette Lenz.

Interview von Barbara Baumgartner und Susanne Pitro

 

Academia: Frau Risse, wie wichtig ist es Ihnen als Prof.in oder Dr.in betitelt zu werden?

Stephanie Risse: Ob Professor oder Professorin ist mir egal, aber „Dr.in“ das mag ich nicht. In Österreich ist es zwar leider mittlerweile üblich, aber in meinem deutschen Pass möchte ich das nicht haben. „Dr.“ ist schlicht ein Titel, ein Abschluss: „Das“ Doktorat hat mit meinem Geschlecht nichts zu tun. Es ist für mich persönlich auch eine Frage der akademischen Tradition: Mein deutscher Großvater war einer der ersten „Doktoren“ im Fach Soziologie, als es noch quasi keine Frauen an den Unis gab. Wir Enkelinnen durften promovieren, sind alle in der Wissenschaft und stolz darauf, in einer Institution sein zu können, die zu Zeiten unseres Großvaters den Frauen noch verschlossen war.

 

Es gibt also auch zwischen österreichischem und bundesdeutschem Sprachgebrauch Unterschiede – noch viel ausgeprägter sind sie zwischen Deutsch und Italienisch. Frau Chiocchetti, Sie arbeiten als Übersetzerin mit beiden Sprachen: Wie sehr spiegelt Sprache das gesellschaftliche Bewusstsein? 

Elena Chiocchetti: Die Sprache ist der Spiegel der Gesellschaft, das sieht man beim Vergleich Deutsch und Italienisch ganz klar, da ist das Deutsche einfach weiter. Aber auch im Italienischen hat sich etwas verändert. Vor 15 Jahren war Luisa Gnecchi in Südtirol fast die einzige, die darauf bestanden hat, „assessora“ genannt zu werden: Irgendwie klang das seltsam, inzwischen ist es normal. Unser Sprachgefühl ändert sich eben auch. Oder „sindaco“: das war einfach männlich – und jetzt haben wir zwei „sindache“, in Turin und in Rom. Laura Boldrini hat sich zum Beispiel als Kammerpräsidentin stark für eine geschlechtergerechte Sprache eingesetzt und das Thema auch in die Medien gebracht. Auch an den Universitäten hat sich viel getan.

Sprache ist nicht per se gerecht oder ungerecht, das sind, wenn schon, dann die Menschen, die sie verwenden.

Frau Lenz, Ihr Amt wacht über die geschlechtergerechte Sprache in Südtirols öffentlicher Verwaltung: Sind Sie damit in Italien so etwas wie Vorreiter?

Anette Lenz: Ein wenig schon - wir werden oft eingeladen, unsere Richtlinien für eine geschlechtergerechte Sprache in der Verwaltung vorzustellen, zuletzt von der Accademia della Crusca. Doch vor der Verabschiedung dieser Richtlinien im Jahr 2012 hinkten wir Österreich und Deutschland sicher rund zehn Jahre hinterher. Durch einen intensiven Austausch mit den Behörden in diesen Ländern konnten wir aber viel lernen und in unsere Richtlinien einfließen lassen. Wir verwenden neutrale Formen, wo es geht, gemischt mit Paarformen, möglichst immer so, dass der Text gut lesbar bleibt. Anfangs haben wir oft geschwitzt, vor allem bei Gesetzestexten. Inzwischen ist es selbstverständlich geworden, geschlechtergerecht zu schreiben.  Wichtig ist es, von Anfang an vor Augen zu haben, dass sich der Text an beide Geschlechter richtet – dann kommen gute Lösungen inzwischen oft von selbst.

 

In ihren Augen: Welche Bedeutung hat Sprache für die Geschlechtergerechtigkeit in der Gesellschaft?

Chiocchetti: Es ist ein Punkt, an dem man ansetzen kann, einer von vielen. Ein Tropfen auf dem heißen Stein: Die italienische Gesellschaft ist immer noch männergeprägt, und Italien gehört auch zu den Ländern, wo am meisten Frauen von Partnern oder Ex-Partnern umgebracht werden – Sprache ist da sicher nicht das dringlichste Problem. Trotzdem ist sie wichtig, denn wenn nicht immer nur vom Mechaniker und dem Ingenieur die Rede ist, sondern auch von der Mechanikerin und der Ingenieurin, ziehen Mädchen solche Berufe eher in Betracht.

Lenz: Vor einigen Jahren war im Kurskalender des Landes zu lesen: „Der Kurs richtet sich an Amtsdirektoren und Sekretärinnen“! So etwas würde heute sicher niemand mehr schreiben – gerade, weil wir daran gearbeitet haben, die Angestellten in dieser Hinsicht zu sensibilisieren: Genauso wie es Amtsdirektoren gibt, gibt es Amtsdirektorinnen. Das Geschlecht ist relevant! Es geht um das Bild, das vor unserem inneren Auge entsteht, wenn wir einen Satz lesen. Sprache spiegelt nicht nur das Bewusstsein, sie prägt es auch.

Risse: Den Ausdruck „geschlechtergerechte Sprache“ halte ich für falsch: Sprache ist nicht per se gerecht oder ungerecht, das sind, wenn schon, dann die Menschen, die sie verwenden. Natürlich ist nichts einzuwenden, wenn in einer Stellenanzeige „Ingenieur/ Ingenieurin“ steht. Doch was machen wir mit so schönen Wendungen wie „Dem Ingenieur ist nichts zu schwer“? Das Problem stellt sich vor allem beim Plural, und da bemühe ich mich um ausgewogenes Sprechen: Wenn in einer Gruppe Frauen in der Mehrheit sind, dann benutze ich die weibliche Pluralform. Aber in meinen Augen ist die Sprache eher ein Nebenkriegsschauplatz – ich glaube, ich bewirke mehr, wenn ich meine Studentinnen dazu motiviere, selbstbewusst vor Publikum das Mikro in die Hand zu nehmen, so lange zu reden, wie sie etwas zu sagen haben und sich nicht vor stimmgewaltigeren Männern zu verstecken. Denn als Anwalt – oder Anwältin – der deutschen Sprache, sage ich: Was da zunehmend im Namen von Geschlechtergerechtigkeit passiert, nützt den Frauen weniger, als es der deutschen Sprache schadet.

 

Diesen Schaden führen Kritiker einer gendergerechten Sprache oft ins Feld - in einer von namhaften Schriftstellern gestarteten Unterschriftenaktion „gegen Gender-Unfug“ ist von „zerstörerischen Eingriffen in die deutsche Sprache“ die Rede.

Risse: Solche Einwände sind ernst zu nehmen. Nehmen wir zum Beispiel die Partizipformen: die Studierenden, die Flüchtenden usw. Ein Flüchtender ist aber jemand, den ich in diesem Moment weglaufen sehe. Das ist etwas anderes als ein Flüchtling, da greife ich in die Semantik ein; ich nehme der Sprache damit eine Möglichkeit der Präzisierung! Und wenn man wirklich korrekt sein will, dann wäre es ja mit der Bürgermeisterin nicht getan, sondern müsste Bürgerinnen- und Bürgermeisterin heißen.

Chiocchetti: Stimmt: Wenn man alles bis ins letzte durchdekliniert, wird es nicht mehr praktikabel. Aber das muss man ja nicht, weniger Fleisch essen heißt auch nicht gleich Veganerin werden. Es geht einfach darum, in die richtige Richtung zu gehen, sich darum zu bemühen, die Sprache inklusiver zu machen – mit Hausverstand.

Risse: Auf den Hausverstand würde ich mich nicht verlassen – die Stadtverwaltung Hannover empfiehlt ihren Beamten, nicht mehr „keiner“ oder „keine“ zu verwenden, sondern stattdessen „niemand“. Was bitte ist daran neutral? Niemand hat seinen Lippenstift liegen lassen, heißt es im Deutschen, nicht ihren Lippenstift. Da wird permanent der deutschen Sprache eine Sexus-Aufladung auch dort unterstellt, wo es immer schon nur um Genus geht.

Lenz: Aus sprachwissenschaftlicher Sicht haben Sie sicher recht. Aber wenn Sie Menschen auf der Straße fragen, empfinden wohl die meisten „niemand“ als neutral. Das Wichtige ist doch, dass sich alle angesprochen fühlen. Wenn ich nur Frauen anspreche, schreibe ich natürlich nicht geschlechtsneutral, sondern spreche sie direkt in der weiblichen Form an. Ich denke, je besser ein Text geschlechtergerecht formuliert ist, desto weniger Widerstand wird sich regen und desto mehr Menschen werden die Lösungen aufgreifen. 

 

 

Was halten von Lösungen wie Gender-Gap, Binnen-I oder Stern?

Lenz: Wir verwenden nur Formen, die vorlesbar sind. Aber nehmen wir an, das Land gäbe eine Broschüre ausschließlich für Menschen heraus, die sich weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen: Dann wäre natürlich auch der Stern eine denkbare Lösung.  

Chiocchetti: Ich würde auch keine Form von vornherein ausschließen. Es kommt darauf an, wen man mit einem Text erreichen will. Vieles ist ja einfach eine Frage des Geschmacks und der Gewohnheit. Das war bei der Rechtschreibreform auch so:  „Dass“ mit Doppel-S fanden viele anfangs schrecklich, jetzt haben wir uns daran gewöhnt.

Risse: Also meine Studentinnen – bei mir sind es ja wirklich fast nur Frauen – können verwenden, was sie wollen, solange sie es innerhalb ihres Textes einheitlich tun. Wenn mir aber ein Verlag in meinen Artikel überall den „Gender-Stern“ reinredigiert, da hört sich für mich endgültig der Spaß auf. Das ist ein Eingriff in mein Autorenrecht. Gut, dass Sie die Rechtschreibreform angesprochen haben: Die ist nicht im eigentlichen Sinne juristisch, sondern über die Institutionen umgesetzt worden.  Aber bei der Genderdiskussion beginnen nun Gerichte über vermeintlich gerechte Begrifflichkeiten zu entscheiden, das halte ich für mehr als bedenklich. 

 

 

Annette Lenz
Direktorin, Amt für Sprachangelegenheiten der Provinz Bozen

Stephanie Risse
Linguistin, Professorin an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Freien Universität Bozen

Elena Chiocchetti
Terminologin, Institut für Angewandte Sprachwissenschaften von Eurac Research