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Privatisierter Sozialstaat

Ein aktueller Bericht der Friedrich-Ebert-Stiftung zeichnet ein düsteres Bild der seit 30 Jahren währenden Privatisierung im schwedischen Sozialsystem.
Hinweis: Dieser Artikel ist ein Beitrag der Community und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
  • Wahlfreiheit für die Bürgerinnen und Bürger im Zugang zu sozialen Leistungen war der Slogan, mit dem Schweden seit 90er Jahren sein auf staatliche Pfeiler gestütztes Sozialsystem in den Bereichen Kinderbetreuung, Schule, Gesundheitsdienst und Arbeitsmarktservice völlig umgekrempelt und privatisiert hat. Die Grundidee war, dass der Wettbewerb zwischen verschiedenen Anbietern ein größeres Angebot für die Menschen schaffen und zugleich die Effizienz der Leistungen verbessern würde. Ausgangspunkt war eine umstrittene Reform der sozialdemokratischen Regierung im Jahr 1991, mit dem das staatlich gelenkte Schulsystem abgeschafft worden ist. Die konservative Regierung von Ministerpräsident Carl Bildt hat bereits im Jahr darauf Schulgutscheine eingeführt. Das für die Bildung vorgesehene Steuergeld konnte seitens der Schulpflichtigen bzw. deren Familien für den Besuch einer öffentlichen Schule verwendet oder als Gutschein bei privat geführten Schulen eingelöst werden. Als langfristig kaum umkehrbar erweist sich der strategische Schachzug, die Verantwortung hierfür den Gemeinden zuzuweisen. Damit ergaben sich x unterschiedliche Standorte für die Umsetzung privater Bildungsangebote, auf deren mehr oder weniger große Bereitschaft zur Umsetzung des Wandels jeweils gezielt strategisch eingegangen werden konnte. Die formal einheitliche Vorgabe besteht darin, dass die Gemeinden gesetzlich dazu verpflichtet sind, die Schulgutscheine, deren Höhe den Kosten der öffentlichen Schule entspricht, den privaten Schulen für jeden dort aufgenommen Schüler zu überweisen. 

    In 30 Jahres das Sozialsystem umgekrempelt

    Innerhalb von 30 Jahren wurde das schwedische Sozialsystem einem so tiefgreifenden Systemwechsel unterzogen, dass das einstige Vorzeigeland für das skandinavische Welfare-Modell dank des Ineinandergreifens von Outsourcing, Privatisierung und Gutscheinsystemen inzwischen ein Schaustück für die am weitesten getriebene Privatisierung in Europa geworden ist. Die Forscherinnen Lisa Pelling und Mia Laurén[1] befürchten, dass private Profitunternehmen in einigen Sozialbereichen dermaßen konsolidiert sind, dass ein Systemwechsel nur sehr schwer umsetzbar wäre. Dies ist umso besorgniserregender, zumal die anvisierten Qualitätssprünge in den sozialen Leistungen nicht eingetreten sind. Im Gegenteil. Aufgrund mehrerer Analysen lässt sich das Fazit ziehen, dass qualitative Aspekte unter dem Diktat der Profitmaximierung unter den Tisch fallen. 

    Konkurrenz zwischen öffentlichen und privaten Angeboten

    Das Gutscheinmodell hat nicht so sehr private Bildungsanbieter untereinander in Konkurrenz gesetzt, sondern das öffentliche Bildungssystem mit privaten Akteuren. Die Auswirkungen zeigt der Bericht an konkreten Beispielen. Die Gemeinden sind gesetzlich dazu verpflichtet, Kindern möglichst wohnortnahe Schulstandorte anzubieten, sei es in einer Kleinstadt oder in abgelegenen Orten. Profitorientierte Schulen unterliegen einer solchen Einschränkung nicht und können somit einen Standort im Stadtzentrum eröffnen. Öffentliche Schulen müssen alle Schüler:innen aufnehmen. Profitorientierte Schulen behalten es sich vor, Einschreibungen abzulehnen. Sie setzen Schüler:innen auf eine Warteliste und machen die Aufnahme davon anhängig, ob es sich rechnet, etwa ab einer Anzahl, die die Schaffung einer zusätzlichen Klasse ermöglicht. Profitorientierte Schulen haben jeweils 32 Schüler:innen pro Klasse und beziehen somit den Betrag von 32 Gutscheinen, während öffentliche Schulen verpflichtet sind, auch Klassenzüge mit weniger Schüler:innen aufrecht zu halten. Das heißt, dass in öffentlichen Schulen weniger Mittel zur Verfügung stehen können und deren Attraktivität leidet, während profitorientierte Schulen für zusätzliche Leistungen zusätzliche Mittel erhalten. 

    Profitable Geschäftsmodelle optimiert

    Die entscheidende Triebfeder der Vermarktung der sozialstaatlichen Leistungen liegt darin, dass im Zuge der umfassenden Privatisierungswelle profitorientierte Unternehmen zunehmend ihre Geschäftsmodelle optimiert haben, um in den verschiedenen Sektoren erfolgreich zu arbeiten. Mittlerweile gibt es in Schweden sehr wohlhabende private Sozialdienstleister, die häufig an internationale Konzerne angeschlossen sind oder zu Venture-Capital-Unternehmen gehören. Wird ihr Aktionsradius nicht Schranken unterworfen, so werden sie laut dem Studienbericht vor allem in dreierlei Hinsicht die regionale Entwicklung beeinflussen: 1) Sie sind imstande, lokale Anbieter von sozialen Leistungen (und damit auch Non-Profit-Organisationen) im Wettbewerb auszustechen. 2) Sie betreiben intensives Lobbying für die Privatisierung von Teilen des öffentlichen Sektors und deren Öffnung für Marktkonkurrenz. 3) Sie sind imstande, für die Erbringung von sozialen Leistungen vorgesehene Steuertöpfe so umzulenken, dass diese den Profiten von internationalen Konzernen zugutekommen, während zugleich die Qualität und die gerechte Zuordnung der sozialen Leistungen unterminiert werden. 

    Auf Expansionskurs in Europa

    Zahlreiche solcher schwedischen Unternehmen sind international auf Expansionskurs: Das größte schwedische Schulunternehmen AcadeMedia hat 2024 113 Vorschulen in Finnland gekauft. In Deutschland führt es 89 Kindergärten, zwei Grundschulen, fünf Oberschulen und Zentren für Erwachsenenbildung, sowie 98 Vorschulen in sechs Bundesländern. Schwedens größtes privates Gesundheitsunternehmen Capio ist 2018 vom französisches Unternehmen Ramsay Santé übernommen worden, das sieben Millionen Patient:innen in Frankreich, Schweden, Norwegen, Dänemark und Italien versorgt. In Deutschland versucht es über die Bergman Kliniken stärker Fuß zu fassen. Versorgungsengpässe sind die ideale Schneise, um neue Märkte zu erobern und sich dafür noch die Dankbarkeit der lokalen Bevölkerung und der Behörden zu sichern. Die Studie legt den Verantwortlichen in den potenziellen Expansionsräume ans Herz, die Ergebnisse einer Analyse der norwegischen Regierung zu beachten. Diese empfiehlt eine striktere Regelung privater Sozialdienstleister. In Betracht zu ziehen ist demnach auch ein Stopp für kommerzielle Anbieter, wenn dieses Modell sich als nicht tragfähig und nutzergerecht erweist. 

    Profitorientierung im Sozialbereich ein problematischer Ansatz

    Die norwegische Regierung unterstreicht, dass das Engagement profitorientierter Sozialdienstleister auch auf anerkennenswerten Motiven beruhen kann. Die Profitorientierung ist im Bereich der sozialen Dienstleistungen jedoch grundsätzlich als problematisch einzustufen. Aus Sicht der Gemeinschaft ist die Kosteneffizienz in enger Verbindung mit der Bedarfszentriertheit der Leistungen (und nicht nur mit der Nachfrage) zu beurteilen. Das Risiko besteht darin, dass profitorientierte Anbieter versuchen, aufgrund ihrer Interessenlagen – spricht kostengünstige Leistungsportfolios für Bedarfslagen mit geringer Komplexität - Einfluss auf die Bedingungen zu nehmen, die die Grundlage für die steuerfinanzierten Sozialleistungen bilden. 

    Die Tätigkeit profitorientierter Sozialdienstleister muss laufend verifiziert und kontrolliert werden, da diese nicht aus einer Gesamtverantwortung für das soziale System eines Lands agieren. Sie werden tendenziell versuchen, sich die „profitabelsten“ Kundinnen und Kunden herauszupicken und aufwändigere Betreuungsfälle auszusparen bzw. dem öffentlichen Akteur zu überlassen. Dies tritt im Gesundheitsbereich deutlich zu Tage. Im Bildungsbereich versuchen profitorienteierte Anbieter sich in ökonomisch privilegierten Kontexten festzusetzen. Das ermöglicht es, Schülerinnen und Schüler als wohlhabenden Haushalten als Zielgruppe ins Auge zu nehmen, mit geringerem Unterrichtsaufwand und geringerem Betreuungsschlüssel zwischen Lehrkraft und Schüler bzw. Schülerin. 


     

    [1] https://nordics.fes.de/e/dont-try-this-at-home-exporting-swedens-neolib…

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Salto User
Oliver Hopfgartner Mon, 05/12/2025 - 06:18

Vergessen wir nicht folgendes: Nicht-profitorientierte, öffentliche Anbieter haben einen massiven Wettbewerbsvorteil gegenüber ihren mehr oder weniger privaten Konkurrenten.
Denken wir z.B. ans Gesundheitswesen oder an Kinderbetreuungseinrichtungen: Öffentliche Anbieter können ihre Dienstleistungen scheinbar kostenlos erbringen und ein Minus im Budget kann notfalls querfinanziert werden.
Private Anbieter hingegen müssen entweder so effizient sein, dass sie mit dem öffentlich zugeteilten Geld auskommen oder dem Klienten etwaige Mehrkosten weitergeben.

Insofern haben private Anbieter mehrere Nachteile gegenüber den öffentlichen Anbietern. Dass die Nachfrage nach solchen privaten Dienstleistungen trotzdem hoch ist, zeigt den Mehrwert, den solche Einrichtungen bringen. Oder anders ausgedrückt: Kaum ein Kunde würde eine Leistung im privaten Bereich in Anspruch nehmen, wenn sie teurer und schlechter wäre als die Leistung im öffentlichen Bereich.

Ein Kritikpunkt im Beitrag ist, dass private Anbieter sich angeblich oft die tief hängenden Früchte rauspicken, indem sie z.B. hauptsächlich an guten Standorten aktiv sind oder im Gesundheitswesen vermeintlich einfache Patienten behandeln.
Ich frage mich: Ist das wirklich schlecht? Wenn z.B. das Ziel ist, die Qualität der Patientenversorgung hoch zu halten, dann sollte ich doch eigentlich froh sein, wenn spezialisierte medizinische Zentren nicht mehrere Mitarbeiter für relativ belanglose Routinetätigkeiten abstellen müssen, sondern Mitarbeiter und Ressourcen für komplexere Probleme eingesetzt werden können. Im rein öffentlichen Sektor werden so auch Zeit und Ressourcen frei.

Mon, 05/12/2025 - 06:18 Permalink