Society | Gastbeitrag

"Allein ist man schwach, gemeinsam stark"

Das gilt insbesondere für suizidgefährdete Menschen. Ein Gastbeitrag, über die Situation in Südtirol, die Herausforderungen für die, die helfen wollen und die Aufgabe der Medien.

Im Jahr 2012 starben 52 Südtiroler durch Suizid, 2013 waren es 47. Auf jede Woche fällt bei uns ca. ein Suizid, und jeder dieser Toten ist einer zu viel. Von internationalen Studien her weiß man, dass die Häufigkeit der Suizidversuche mindestens 8 bis 10 Mal so hoch ist, das sind 1 bis 2 Suizidversuche täglich in unserem Land.

Südtirols Suizidrate (Suizide pro Jahr und 100.000 Einwohner) ist über die Jahrzehnte doppelt so hoch wie jene Italiens, und deutlich höher als jene der Nachbarprovinz Trentino. Sie erreichte 1990 einen traurigen Höchststand, als sich im Vinschgau mehrere junge Männer immer auf die gleiche Weise das Leben nahmen. Die Presse reagierte damals noch mit einem entsetzten Aufschrei, der, wie wir heute wissen, grundsätzlich gefährlich ist. Berichterstattung über das Phänomen soll erfolgen, damit es nicht tot geschwiegen wird. Aber spektakuläre Schilderung einzelner Fälle führt zur Nachahmung: Umso mehr, je bekannter das Opfer ist, je größer die Aufmachung der Berichte ist und je genauer die Sterbensumstände beschrieben werden. Dazu gibt es ein halbes Dutzend weltweit anerkannter Studien, die die Medien in die Pflicht nehmen. Wenn über Suizid berichtet wird, sollen nüchterne, allgemeine Aussagen dazu und Schilderungen der Hilfsangebote durch Experten erfolgen. Große Spekulationen über Einzelfälle mit Fotos und reißerischen Titeln sind wissenschaftlich verboten – auch wenn einige Journalisten und Herausgeber dagegen wettern, weil sie das Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt sehen.

Nach 1990 wurde eine Untersuchungskommission in Südtirol eingesetzt, die Presse und Rundfunk empfahl, nicht mehr über Suizide zu berichten. Gerade die deutschsprachige Presse hielt sich strikt an die Empfehlung, bis 1995 der Suizid von Alexander Langer dieses Schweigen brach – das Opfer war zu prominent, die Gerüchteküche überbordend, und in der Folge wurde die Empfehlung nur mehr teilweise beachtet.
Dass die Suizidrate seitdem trotzdem weiter gesunken ist, ist auch unseren gemeinsamen Anstrengungen auf verschiedenen Ebenen zu verdanken. Ein ganzes Netzwerk an Hilfsangeboten ist entstanden, allen voran psychiatrische Bereitschaftsdienste rund um die Uhr und psychiatrische Abteilungen an den vier Krankenhäusern von Bozen, Meran, Brixen und Bruneck. Dort finden stark Gefährdete in jedem Augenblick Schutz und Hilfe. Manchmal muss Hilfe auch gegen den Willen der Betroffenen geleistet werden. Keine funktionierende Psychiatrie kommt ohne Zwangsmaßnahmen aus, schwer Erkrankte müssen oft genug vor sich selbst geschützt werden.

Stärken des Netzwerks, das in 10 Jahren „Europäische Allianz gegen Depression in Südtirol“ besonders intensiv aufgebaut worden ist, sind Telefonberatungsstellen, Selbsthilfegruppen, gut informierte Seelsorger, Lehrer und Ordnungskräfte, Notfallseelsorge, Notfallpsychologie und bestens ausgebildete Hausärzte.

Aber auch wissenschaftlich versuchten wir uns dem Thema zu nähern. 10 Jahre lang hat die „Südtiroler Arbeitsgruppe für Suizidprävention“ Daten gesammelt, 2010 wurde sie leider aufgelöst. Die Psychiatrien Südtirols kontaktierten die Hausärzte und Angehörigen von mehr als 400 Suizidopfern und erhoben wertvolle Hintergründe. Fast 50 Prozent der Opfer litten an Depressionen, mehr als 25 Prozent waren alkoholkrank. Im Verhältnis zur Bevölkerung nahmen sich mehr Ladiner und Deutschsprachige als Italiener das Leben – es ist, als könnte man vom italienischsprachigen Teil Südtirols lernen, wie Krisen ohne Bedrohung des eigenen Lebens gemeistert werden. Eine Brunecker Befragung zur Lage der Hinterbliebenen machte deutlich, dass diese sich ausgegrenzt und abgestempelt fühlten, und nicht selten selbst in lebensgefährliche Krisen gerieten.

Die Zahl der Suizidopfer sank deutlich: Am Höhepunkt des Projekts „Europäische Allianz gegen Depression“ im Jahr 2007 beklagte Südtirol nur mehr 38 Opfer – endlich war die magische Grenze von 40 Toten pro Jahr unterschritten. Aber sie stieg 2008 erneut, als das Projekt zu Ende ging. Was alle Beteiligten darauf hinweist, dass die Bemühungen weiter gehen müssen. Auch wäre es kurzsichtig, nur bestimmte Fachleute mit der Vorbeugung von Suiziden zu betrauen. In diesem Fall gilt besonders: Allein ist man schwach, und gemeinsam stark. Vor allem aber können wir von den Erfahrungen des Auslandes lernen. Österreich ringt mit einer deutlich höheren Suizidrate als Südtirol, und Deutschlands Rate entspricht in etwa jener Südtirols. Die Schweiz wendet viel Energie auf, um den Zugang zu potentiell tötlichen Hilfsmitteln zu erschweren. Alle drei Staaten haben viel Energie und Forschung in die Suizidvorbeugung investiert, mit zum Teil sehr guten Ergebnissen. Wir sollten das unbedingt auch weiter tun. Seit 2010 besteht in diesem Sinn ein freiwilliges „Netzwerk zur Krisenverhütung“ ohne jede finanzielle Unterstützung, also pures Volontariat, als Teil der Europäischen Allianz gegen Depression. Manche Anliegen sind wohl zu teuer, um sie gut zu verwirklichen, aber auch zu wichtig, um sie brachliegen zu lassen.

Roger Pycha (Primar der Psychiatrischen Abteilungen, Krankenhaus Bruneck) und Josef Schwitzer (Primar der Psychiatrischen Abteilung, Krankenhaus Brixen),
Leiter der Europäischen Allianz gegen Depression in Südtirol