Culture | Salto Gespräch

„Themen vertiefen statt nur unterhalten“

Gespräch mit Marco Passarello über seine Anthologie zwischen Wissenschaft und Fiktion, das Genre Science-Fiction zwischen gestern und morgen, zwischen Literatur und Film.
Marco Passarello
Foto: Franco Russo
Das Format der Anthologie ist in Nischen-Genres wie Science-Fiction oder Horrorliteratur beliebt, Passarellos Anthologie „Fanta-Scienza 2“ (anders als im Deutschen oder Englischen wird die Genre-Bezeichnung im italienischen üblicherweise als ein Wort geschrieben) setzt, wie die erste Ausgabe auf einen eigenen Zuschnitt. Neun von Passarello mit Expert:innen des Istituto Italiano di tecnologia geführte Interviews geben Auskunft zu hochspezialisierten, zukunftsorientierten Forschungsfeldern. Diese Gespräche dienen in Folge, als Inspirations- und Informationsquelle für die Science-Fiction Erzählungen von acht italienischen Autor:innen - unter ihnen Passarello selbst. Die neunte Geschichte, im Buch in übersetzter Fassung an die erste Stelle gesetzt, stammt von Bruce Sterling, einem mehrfach, unter anderem mit dem Hugo und Arthur C. Clark Preis ausgezeichnetem Autor aus Texas, der seit 2007 in Turin lebt.
 
Herr Passarello, bereits mit einem Interview gibt man in gewisser Weise die Kontrolle ab. Für die Anthologie „Fanta - Scienza“ war das doppelt so, da Ihre Interviews als Ausgangspunkt für einen kreativen Geist gedient haben. War das stressig oder befreiend?
 
Marco Passarello: Mir ist bewusst geworden, dass mir das Schreiben, wenn ich ein eng gestecktes Ziel habe, besser gelingt, als wenn ich ganz frei bin. Das stört mich. Allgemein versuche ich, wenn ich schreibe Ziele zu erreichen, die ich mir selbst setze. Wenn ich ganz für mich schreibe, bin ich vielleicht zu ambitioniert und erreiche diese Ziele nicht. Falls ich aber bis zu einem gewissen Tag zu einem bestimmten Thema für eine vorgegebene Lücke schreiben soll, sehe ich, dass auch was die Reaktionen der Leser betrifft, die Resultate oft besser sind. Das stört mich etwas, ich muss es aber vielleicht ausnutzen, wenn ich mich bestmöglich äußern möchte.
 
Wie Tolstoi gesagt hat: „Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.“
 
Was zieht Sie an Science-Fiction mehr an, utopische oder dystopische Zugänge?
 
Ich bin für den Weg der Mitte. Ich bin überzeugt davon, dass was eine Geschichte interessant macht, die negativen Ereignisse und die Spannung sind. Es ist sehr schwierig eine interessante Geschichte zu schreiben, in der alles gut läuft. Wie Tolstoi gesagt hat: „Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.“ Am Ende interessieren uns als Leser Probleme und Situationen, die auf eine Weise negativ sind. Meine wissenschaftliche Bildung bei Seite lassend, war ich immer schon fasziniert von der Wissenschaft und sehe sie tendenziell nie als etwas Negatives, die nur Probleme für die Menschheit schafft, wie es aktuell oft gesehen wird. Ich bin da neutral. Wenn ich Science-Fiction schreibe, versuche ich einerseits problematische Situationen, die sich aus der Wissenschaft ableiten zu finden, sehe die Wissenschaft aber nicht negativ, versuche Szenarien aufzuzeigen durch welche sich die Probleme lösen lassen oder positiv entwickeln können.
 
War Ihr Zugang beim Zusammenstellen der Anthologie ähnlich?
 
Meine Anthologie entstand aus einem ähnlichen Problem heraus. Die anfängliche Inspiration war ein Buch von Neal Stephenson, „Hieroglyph - Stories & Vision for a Better Future“ das nie in Italien erschienen ist. Stephenson inspiriert sich dort an der Theorie der Hieroglyphen, einem Symbol, welches Menschen in gewisser Weise zu einem Handeln inspiriert, dazu, Ideen umzusetzen. Für ihn erfüllte die Science-Fiction der „Goldenen Jahre“ - welche er in den 50er und 60er Jahren sieht - diese Funktion, war für die Menschen, die sich mit Technologie oder Politik beschäftigten ein Zeichen, dass die Dinge anders und besser sein konnten. Laut Stephenson ist Science-Fiction heute dystopisch und negativ und dient nicht mehr als Inspiration. „Hieroglyph“ biete in Opposition dazu eine Science-Fiction des Vorschlags an. Vergleichbar dazu gibt es auch, in Opposition zum Subgenre des dystopischen „Cyberpunk“ aus den 80er Jahren den „Solarpunk“, der utopischere Geschichten vorschlägt, wenn auch nicht immer positive, idyllische.
Ich teile die Ansicht von Stephenson nicht besonders. Ich sehe den Austausch mehr in die andere Richtung: Science-Fiction bedient sich bei unserer Welt, es ist seltener so, dass sich die Welt bei Science Fiction bedient. Der Austausch findet aber in beide Richtungen statt.
 
Wir leben in einer Welt mit dystopischen Zügen und die Science Fiction streicht sie hervor, macht sie extremer, um sie erzählen zu können.
 
Dabei handelt es sich häufig um wahrscheinliche Prognosen, Bedürfnisse, die - mit oder ohne Science-Fiction - eine technische Lösung gefunden hätten…
 
Das stimmt. Es ist auch vorgekommen, dass Science-Fiction die Vorstellungswelt beeinflusst und auch das, was umgesetzt wird. Der bereits genannte Cyberpunk griff die Idee einer virtuellen Realität, in die man eintauchen kann, vorweg. Viele haben versucht diese umzusetzen, auch Zuckerberg versucht es nun mit seinem Metaverse. Er versucht Dinge umzusetzen, von denen die Science-Fiction Bücher seiner Kindheit sprachen.
Science-Fiction hat Einfluss, aber dieser sollte nicht überbewertet werden, der umgekehrte Einfluss ist sicherlich stärker. Wir leben in einer Welt mit dystopischen Zügen und die Science Fiction streicht sie hervor, macht sie extremer, um sie erzählen zu können. Ich denke also, dass sich die Schriftsteller nicht die Aufgabe stellen sollten, die Welt zu inspirieren. Wenn sie es tun, dann sicherlich unfreiwillig und unvorhergesehen: Ein Science-Fiction Autor, der sagt er will die Welt erzählen, die er gerne hätte, damit sie real wird, riskiert langweilig zu sein und wird schwerlich das gewünschte Resultat erzielen.
Beim Zusammenstellen der Anthologie wollte ich den Schriftstellern keine Grenzen setzen und ihnen vorschreiben, dass sie Positives schreiben sollten, auch wenn es galt, ausgeglichen zu sein. Wenn man von Gesprächen mit realen Personen ausgeht, ist es schwer zu sagen, dass woran sie arbeiten in Zukunft nur Probleme verursachen wird. Aber ich muss sagen, dass auch die Wissenschaftler, bei denen die Geschichten negativer ausfielen, sich das nicht zu Herzen genommen haben. Sie haben mir gesagt, dass diese Alarmfunktion der Science-Fiction nützlich ist: Ein Wissenschaftler hätte sich manches wohl anders vorgestellt.
 
Über Science-Fiction können wir uns auch mit ethischen Fragen konfrontieren, die noch keine reale Anwendung haben, in Zukunft aber wahrscheinlich sind. Als Geisteswissenschaft schreitet die Ethik nicht im gleichen Tempo voran, wie technologische Entwicklungen. Sehen Sie diese Rolle des Genres auch so und wenn ja, wo?
 
Ja, das sehe ich auch so. Luca Berdondini, der Wissenschaftler, der meinen Beitrag inspiriert hat, sieht Science-Fiction als einen ersten Prüfstand für die ethischen Probleme, die sich aus technologischem Fortschritt ergeben. Man untersucht die Probleme, bevor sie bestehen. Das kann sehr nützlich sein, weil es Fragen sind, die sich ein Philosoph noch nicht gestellt hat. Das ist vielleicht die wichtigste Funktion von Science-Fiction, ein großer Teil der guten Science-Fiction macht das.
Wenn wir auf Klassiker wie Isaac Asimov zurückblicken, hat er sich Fragen gestellt, etwa in Bezug auf Roboter, die jetzt erstmals konkret werden: Wenn ich ein intelligentes Auto habe, das dem Menschen dienen soll, wie muss es beschaffen sein um negative Folgen zu vermeiden? Wir finden das auch, wenn wir seinen Foundation-Zyklus lesen: Mit unglaublich großen Datenmengen, kann man vorhersagen, was passieren wird. Wie kann ich dieses Wissen nutzen? Es sind Erzählungen und Bücher die sich, auch mit einem abenteuerlichen Zuschnitt, diesen Fragen gestellt haben, bevor sie eine reale Anwendung hatten.
Heute, mit Big Data haben wir ein besseres Verständnis von vielen Dingen und auch Roboter beginnen Realität zu werden. Von den Wissenschaftler:innen, die ich interviewt habe studiert etwa eine, Alessandra Sciutti, wie Roboter beschaffen sein müssen, damit die Menschen mit denen sie interagieren ihnen vertrauen. Das hat jetzt einen konkreten Wert, hat seine Wurzeln aber in der Science-Fiction der 30er Jahre. Das waren damals schon nicht mehr ein Roboter wie die Kreatur des Dr. Frankenstein, sondern etwas, mit dem Menschen normal interagieren.
 
Das ist, finde ich, ein Geheimnis der Science-Fiction - eine Zukunft zu erzählen, die uns anzieht, aber gleichzeitig erschreckt, etwas Neues, Unbekanntes und Andersartiges also.
 
Die Gestaltung des Umschlags der Anthologie ist auch typisch Science-Fiction, nimmt Bezug auf eine Bildsprache, die im Rückgang begriffen ist. Wie sehen Sie die Entwicklung, dass heutzutage die Verlagshäuser immer mehr auf Minimalismus und einen aufgeräumten Look setzen?
 
Darüber hatte ich noch nicht nachgedacht, aber es stimmt: Diese Ästhetik ist nur in der Nische der Science-Fiction erhalten geblieben und dem Genre in gewisser Weise inhärent. Oft wird das auch belächelt. Denken wir an eine der ersten Geschichten von William Gibson „Das Gernsback Kontinuum“, dann nahm er selbst diese zukunftsorientierte Ästhetik auf den Arm, weil sie auch negative Aspekte hatte, zu triumphal war.
In Italien gab es das weniger: Karel Thole, ein niederländischer Illustrator, der nach Italien zog und für lange Zeit die Cover von Urania gestaltet hat, gab hier den Ton an. Er hatte immer einen beunruhigenden Charakter in seinen Arbeiten, der sie ambivalent machte: Auf der einen Seite waren sie fantastisch, auf der anderen erschreckend. Das ist, finde ich, ein Geheimnis der Science-Fiction - eine Zukunft zu erzählen, die uns anzieht, aber gleichzeitig erschreckt, etwas Neues, Unbekanntes und Andersartiges also. Das Buchcover von Franco Brambilla, dem aktuellen Gestalter der Urania Cover, erzeugt diese Atmosphäre von Mysterium, Beunruhigung und Seltsamkeit, die Science-Fiction haben sollte, sehr gut, finde ich.
Ehrlich gesagt weiß ich nicht, warum sich der restliche Buchmarkt anders orientiert hat, das sind Moden. Vielleicht kommt wieder eine Zeit in der wir mehr einfallsreiche Buchcover haben werden.
 
 
Es scheint, als würde das Science-Fiction-Kino der Literatur einen schlechten Dienst erweisen. Häufig rechtfertigt es sich mit Action und großen Budgets. Schreckt das potentielle Leser ab?
 
Das ist ein Problem, das 77 begann, als der erste Star Wars Film erschienen ist, welcher eine neue Welle von spektakulärem, aber in Wahrheit weniger sciencefictionhaftem Kino nach sich zog. Es stimmt, dass Star Wars Science-Fiction-Elemente hat: Raumschiffe, Roboter… Es ist aber eine Erzählung, die sich mehr auf Abenteuergeschichten und Fantasy beruft, als auf authentische Science-Fiction Themen und eine Zukunft, die wir als möglich, oder umsetzbar sehen.
 
Ich muss aber sagen, dass, während das Kino sich mit einigen Ausnahmen von tief schürfender Science-Fiction abgewandt hat - man im Fernsehen auch ausgefeiltere Produktionen gesehen hat.
 
Eine Zukunft „vor langer Zeit“…
 
Unter anderem, ja. Die Filme hatten zur Folge, dass sich die Science-Fiction Literatur in eine Nische einschloss, während sie einst ein Massenphänomen war: Urania verkaufte 50.000 Exemplare in zwei Wochen, jetzt wird die Zahl um eine Stelle kürzer sein. Als die Literatur in eine Nische ging, haben Kino, Fernsehen und Videospiele ein großes Publikum anzogen.
Ich muss aber sagen, dass, während das Kino sich mit einigen Ausnahmen von tief schürfender Science-Fiction abgewandt hat - man im Fernsehen auch ausgefeiltere Produktionen gesehen hat. Die Form der TV-Serie erlaubt das Nischenpublikum zu erreichen und ermöglicht es mehr ins Detail zu gehen, als in den zwei Stunden Laufzeit eines Kinofilms. Komplexe Science-Fiction hat im Serienformat einen Zufluchtsort gefunden. Ich denke an Produktionen wie „Westworld“ oder „Love, Death and Robots“, die Erzählungen zeitgenössischer Autoren als Animations-Filme adaptieren.
Es kam auch zu einer Spaltung: Während Science-Fiction Literatur immer erwachsener wurde, ist sie auch schwieriger und für Einsteiger unzugänglicher geworden. Sie wurde sehr komplex und es wird viel als gegeben vorausgesetzt. Der Leser von einst, der Urania für eine zweistündige Zugfahrt gekauft hat, kann mit einem Science-Fiction Roman von heute Schwierigkeiten haben, da es viel zu wissen und zu vertiefen gilt. Es gibt aber auch Autoren, die der Science-Fiction nicht zugerechnet werden, sie aber als eines von mehreren Elementen in ihren Büchern verwenden, auch wenn dieser Austausch in Italien nicht stattgefunden hat. Ich denke dabei etwa an das Buch „Klara und die Sonne“ von Kazuo Ishiguro, dessen Protagonist ein Roboter ist, aber auch an Ian McEwan, George Saunders, Jennifer Egan. Das sind alles große Namen der englischsprachigen Literatur. Science-Fiction hat sich dadurch außerhalb des Genres verbreitet. Man hat, so gesehen, etwas verloren, aber etwas anderes dazu gewonnen.
 
 
Welche Bücher - es gibt ja auch viele Kurzgeschichten oder Novellen - würden Sie Lesern empfehlen, die bislang keine Berührungspunkte mit Science-Fiction hatte?
 
Man muss auch sehen, welche Art von Leser das ist. Ich muss aber sagen, wenn jemand, der bereits eifriger Leser ist, sich der zeitgenössischen Science-Fiction nähern will, würde ich Ted Chiang empfehlen. Er ist ein amerikanischer Autor chinesischer Abstammung und schreibt Kurzgeschichten, die man daher auch schnell lesen kann, die aber immer recht außergewöhnlich sind. Er pflegt eine Science-Fiction der Ideen, die auf ausgereiften wissenschaftlichen und philosophischen Überlegungen basiert, aber auch fesselnd ist. Er hat nur zwei Sammelbände an Erzählungen geschrieben, in welchen unter anderem „Story of Your Life“ enthalten ist, auf dem Denis Villeneuves „Arrival“ basiert. Ich muss sagen, er ist ein Schriftsteller, der nie enttäuscht.
 
Sie würden also Ihre eigene Anthologie nicht dafür empfehlen?
 
Das tue ich aus Gründen der Bescheidenheit nicht. Hoffentlich ist mein Buch auch dafür geeignet, weil es einen journalistischen Anteil hat, der erlaubt die Themen zu vertiefen, bevor man sich mit den Geschichten konfrontiert. Das Buch stellt dar, was ich mir von Science-Fiction im Allgemeinen wünsche: Es werden reale Themen vertieft statt nur zu unterhalten. Es sind auch verschiedene Subgenres vertreten, bis hin zum Noir. (Untergruppe von Detektiv-Geschichten, Anm. d. Red.) Es gibt also einen Anteil, der sich speziellen Genres widmet, aber nicht nur. Meine Absicht war es, eine Auswahl von Science-Fiction für Erwachsene zusammen zu stellen, die auch einen neuen Leser begeistern kann. Ich hoffe mir ist das gelungen.