Culture | Salto Weekend

Im Namen der Straßen

Die Studie der zwei Historikerinnen Siglinde Clementi und Franziska Cont vom Kompetenzzentrum ist eine längst überfällige Anregung für männliche Straßenbenenner.
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Foto: Salto.bz

Salto.bz: Wie ist ihnen beiden eigentlich dieses Thema zugefallen? Straßennamen, Frauenbiografien…

Siglinde Clementi: Auf Vorschlag von Brigitte Foppa von der Grünen Fraktion des Landtages wurde das Projekt zur Erstellung einer Liste mit Namen von verdienstvollen Frauen als Handreichung für die Gemeinden für ihre Benennungspraxis von Straßen und Plätzen in der Konvention 2020-2022 zwischen der Südtiroler Landesregierung und der Freien Universität aufgenommen und das Kompetenzzentrum für Regionalgeschichte mit der Durchführung des Projektes betraut. Wir haben die Anregung gern aufgenommen und ein Forschungsprojekt zur Erinnerungskultur konzipiert. Es war uns sehr wichtig, nicht nur eine einfache Liste bereits bekannter Frauenpersönlichkeiten zu erstellen, sondern wir wollten bisher unbeachtete Frauen aus der Vergessenheit holen und zusätzlich zur Namensnennung Kurzbiografien zu den einzelnen Frauen erarbeiten, um den Gemeindepolitiker*innen eine handfeste Grundlage für ihren Entscheidungsprozess zu liefern.
 

Wenn keine Straßen nach Frauen benannt sind, dann ist das ein eklatantes Verschweigen der Leistungen der Hälfte der Bevölkerung.


Das Thema Erinnerungskultur – etwa durch die Benennung von Schulen oder Straßen – hat im Lauf der Geschichte immer wieder verschiedenste Wege genommen. Welchen Stellenwert hat die Benennung von Straßen heute? „Wichtige“ Leute wollen sich ja bereits im Universum namentlich verewigen...

Siglinde Clementi: Fragen der Erinnerungskultur, ob es um Denkmäler, Museen, Schul-oder Straßenbenennungen geht, werden kontrovers diskutiert, weil sie nicht nur die Geschichtswissenschaft betreffen, sondern wesentlich auch die Politik. Es geht um die brisante Frage, wie wir öffentlich mit unserer Geschichte umgehen, was wir erinnern und was wir verschweigen, d.h. es geht um nichts weniger als die Erinnerungs- und Übertragungswürdigkeit und folglich darum, welche gesellschaftliche Selbstsicht und welche Werte wir kollektiv vertreten. Das ist eine eminent politische Frage, die eine differenzierte Geschichtswissenschaft als Entscheidungsbasis braucht. Straßennamen sind einerseits Teil des Alltags und werden meist nicht bewusst in ihrer historischen Bedeutung wahrgenommen, andererseits sind sie aber ein öffentlich sichtbares Symbol dafür, an wen und an was wir uns kollektiv erinnern wollen und daher sehr wohl bedeutsam. Wenn keine Straßen nach Frauen benannt sind, dann ist das ein eklatantes Verschweigen der Leistungen der Hälfte der Bevölkerung. Im Projekt ging es uns darum eine männlich dominierte, auf Politik und Nation ausgerichtete Erinnerungskultur aufzubrechen und den Wirkungsbereich von Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen, insbesondere aber in von Frauen sehr stark frequentierten Bereich, wie das Sozialwesen, die Schule und die Kultur zur Geltung zu bringen. Besondere Beachtung haben wir dem Einsatz für Emanzipation und Geleichberechtigung geschenkt und dem Thema Verfolgung und Widerstand, also Hexenverfolgung, Verfolgung durch Faschismus und Nationalsozialismus: Katakombenlehrerinnen, Frauen im Lager, jüdische Frauen.
 

 

Was hat bei der Recherche am meisten überrascht? 

Franziska Cont: Überraschungen gab es viele. Sehr schnell wurde uns beispielsweise am Anfang des Projektes klar, dass wir nicht bei Null starten mussten, sondern auf eine umfassende Literaturbasis zurückgreifen konnten. Für viele verdiente Frauen liegen bereits Arbeiten vor, das zeigt dass selbst jene Frauen, zu denen es biografische Studien gibt, im kollektiven Gedächtnis kaum wahrgenommen werden.
Überraschend war es aber auch zu sehen, wie lohnend es ist, weiblichen Lebenslinien zu folgen und männliche Definitionen infrage zu stellen. Wenn wir beispielsweise nach Formen des Widerstandes fragen, die über jene des bewaffneten Kampfes hinausgehen, so ist es möglich eine Reihe von Handlungen zu entdecken, an denen auch Frauen maßgeblich beteiligt waren. Ein wunderbares Beispiel dafür ist Sr. Edwina Aberham. Sie war Oberin des Jesuheims in Girlan. Höchstwahrscheinlich im Wissen um die NS-„Euthanasieprogramme“ setzte sie sich in der Zeit der „Option“ für die ihr anvertrauten Patient*innen ein und stellte sich gegen eine „Absiedlung“ ins Deutsche Reich, womit sie sie vor dem wahrscheinlichen Tod rettete.
 

Wie ist diese nun vorgelegte Aufarbeitung auch für kleine Gemeinden und Talschaften in Südtirol nutzbar? 

Franziska Cont: Das Handbuch versteht sich als Handlungsanleitung für zukünftige Benennungspraktiken und stellt anhand einer breiten Auswahl von Kurzbiografien Frauenpersönlichkeiten vor, die als erste Vorschläge für die Gemeinden dienen sollen. Keinesfalls kann aber von einer abgeschlossenen Arbeit gesprochen werden. Vielmehr wollen wir mit den vielen Kurzbiografien Anstoß und Anleitung für  weiteres Suchen und Forschen sein. Die hier angeführten Frauen stehen mit ihrem Namen und ihrer Lebensgeschichte für eine Vielzahl von Frauen, die es noch zu entdecken gilt. Sie zeigen, dass eine Suche nach verdienstvollen Frauen überraschend viel Material an den Tag befördern kann.
 

 

Wie hoch ist der Anteil an Frauen in der Südtiroler Erinnerungskultur? Und wie steht Südtirol da, im Vergleich zu anderen Gegenden? 

Siglinde Clementi: Seit dreißig Jahren beschäftigen wir uns in Südtirol professionell und erfolgreich mit Frauen- und Geschlechtergeschichte. Auch wenn wir nach wie vor einen großen Aufholbedarf in diesem Forschungsbereich haben, kann die materielle Erinnerungskultur auf die bisherigen Ergebnisse zurückgreifen und darauf aufbauen. Im Vergleich zum Trentino und in gewisser Hinsicht auch im Vergleich zum Bundesland Tirol stehen wir diesbezüglich gut da. Allerdings geht es auch in Südtirol neben weiterer Forschung um die konkrete Umsetzung der Erkenntnisse in öffentlichen Erinnerungsträgern. So gibt es in Südtirol sehr viele Gemeinden, in der keine Straße nach einer Frau benannt ist. Diesem Missstand soll unsere Zusammenstellung von Frauenkurzbiografien konkret entgegenwirken. Das Kompendium umfasst Kurzbiografien von 62 Frauenpersönlichkeiten auf internationaler und nationaler Ebene und 138 auf regionaler und lokaler Ebene. Jetzt kann in Südtirol definitiv niemand mehr sagen, dass es keine verdienstvollen Frauen gäbe, nach denen eine Straße benannt werden kann.  

Das Handbuch und die akribische Arbeit dahinter werden nun auch in die italienische Sprache übertragen. Wie vergleichbar ist der Zugang zu diesem Thema überhaupt, bzw. die Sichtweise auf Erinnerungskultur in beiden Kulturräumen?

Siglinde Clementi: Die Südtiroler Erinnerungskultur ist von der ethnischen Frage und von der besonderen historischen Entwicklung des Landes geprägt. Sowohl die Präsenz von drei Sprachgruppen als auch die historisch und erinnerungskulturell einschneidende Präsenz von zwei Faschismen, italienischer Faschismus und Nationalsozialismus, haben auch in der Erinnerungslandschaft Spuren hinterlassen. Diese sozialen und historischen Gegebenheiten hatten eine konfliktbeladene Geschichts- und Erinnerungskultur, eine Separierung der Erinnerung nach Sprachgruppen und einen mühsamen Annährungsprozess zur Folge, der noch immer anhält. Unsere Arbeit reiht sich in diese Bemühungen ein und berücksichtigt Frauen aus allen drei Sprachgruppen. Auch wird das rund 440 Seiten umfassend Kompendium ins Italienische übersetzt.  
 

Wie stark ist das Thema Straßennamen politisch belastet. Warum wird die Thematik nicht gänzlich Historiker*innen überlassen? 

Franziska Cont: Die Frage nach der historischen Belastung von Straßennamen ist vor allem im deutschsprachigen Raum sehr präsent. Auch in der vorliegenden Arbeit haben wir Ausschlusskriterien definiert und damit für jene Frauen dezidiert keine Empfehlung ausgesprochen, für die Verstrickungen mit dem nationalsozialistischen und faschistischen Regime belegt werden konnten. Dennoch können und wollen wir als Historikerinnen den politischen Entscheidungen nicht vorgreifen. Dies entspricht nicht dem Auftrag der Wissenschaft, der sich, wenn es um die Frag der Belastung geht, darin erschöpft im Sinne der Gesamtschau eines Lebens problematische Aspekte aufzuzeigen. Wen jedoch letztendlich eine Gesellschaft in Form von Straßenbenennung würdigen will, muss in einer politisch-gesellschaftlichen Diskussion geklärt werden und ist Teil eines demokratiepolitisch wichtigen Prozesses. Damit wird auch klar, dass Straßenbenennungen Ausdruck einer Zeit und ihrer dominanten Wertehaltung sind.
 

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Hartmuth Staffler Sat, 03/11/2023 - 14:18

Eine verdienstvolle Arbeit. Ich habe in meinen fünf Jahren im Brixner Gemeinderat mich vergeblich darum bemüht, faschistische Straßennamen streichen und dafür Frauennamen einzuführen zu lassen. Die Mehrheit war dagegen und hat sogar den Anteil der bedenklichen, rein militaristisch-männlichen Straßennamen noch erhöht. Historische Argumente wurden vor allem von der SVP mit höhnischem Gespött ("Jetzt redet der schon wieder von Geschichte") abgetan.

Sat, 03/11/2023 - 14:18 Permalink