Denken mit Bildern
Ein Gastgbeitrag aus der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Kulturelemente (144)
„Die Zahl der Bilder ist ins Unermessliche gestiegen und wird nicht aufhören anzuwachsen. Doch es entsteht der Eindruck, dass sich diese Bilder immer schneller bewegen, sich immer schneller vermehren, weil der Blick sie nunmehr anzuhalten weiß, sie folglich festhalten und anders ablaufen lassen kann.“
(Raymond Bellour, Analyse in Flammen, in Kino wie noch nie, Generali Foundation Wien, Verlag der Buchhandlung Walther König 2007)
Eine Frau mit Kamera steht an der Reling eines Passagierschiffes und blickt in die Ferne. Bilder von winkenden Menschen am Pier, einfachen Hütten an unbekannten Ufern und Hausbooten in Shanghai reihen sich aneinander. Darüber legen sich Reisetöne, und parallel dazu entspinnt sich eine Montage verschiedener Erzähler_innenstimmen, die einmal – unfreiwillig – aus Wien weggingen oder dort ankamen. Sie erinnern sich an ihre Abfahrten und Ankünfte, an Grenzüberschreitungen, ihre Eindrücke auf hoher See und die Farben Marokkos. Im Found Footage Film Passagen (1996, von Normal- und Super 8 auf 35 mm vergrößert, 12 min) entspannt die Österreichische Künstlerin und Filmemacherin Lisl Ponger eine imaginäre Karte unterschiedlicher Emigrationsgeschichten des 20. Jahrhunderts. Seit über 20 Jahren erkundet Ponger Ozeane an Bildern, vor allem Privatfilmarchive. In ihren Filmessays collagiert und zersetzt sie das Vorgefundene, setzt es in neue Kontexte und rückt die Diskurse hinter den Bildern in den Vordergrund.
Die Flüchtigkeit des Films, sein ständiger Entzug, ist ein grundlegendes Phänomen des Denkens mit Bildern.
Die Bilder der Reisenden – Relikte eines kollektiven Reisefiebers – stehen im Spannungsverhältnis zum Ton, der sie als postkoloniale Visionen markiert: „Nicht zuletzt die wunderschönen Leuchtschriften „Hotel Edison“ und „Radio City“ erinnern an den Ursprung dieser Form der Aneignung der Welt, an die Zeit der großen Expeditionen, der Benjaminschen Schaufenster und Passagen, an die Zeit, als technische Medien und Transportmittel die Wahrnehmung des modernen Menschen grundlegend veränderten“, schreibt die Filmwissenschaftlerin Christa Blümlinger.
Der Zusammenprall von Filmmaterial, das aus seinem ursprünglichen Kontext entfernt und in neue Bedeutungszusammenhänge eingefügt wird, führt zu einer Wucherung von Sinn und einer Multiplikation von Stimmen und Äußerungsinstanzen. Augenscheinlich wird dabei, dass es kein hermetisches Gedächtnis gibt und Bilder niemals unschuldig sind. In ihrer Geschichtlichkeit sind sie mit historischen Fakten, Erinnerung und Emotion überladen. Die Flüchtigkeit des Films, sein ständiger Entzug, ist ein grundlegendes Phänomen des Denkens mit Bildern. Filmmaterial ist gefügig; die Bedeutung liefert der „Inhalt“ der Bilder, ebenso wie ihr Kontext.
Dabei ist die Praxis des Found Footage so alt wie der Film selbst: die Verwendung von Vorgefundenem im Film ist dem Medium durch Montage und Reproduktivität gewissermaßen eingeschrieben.
Found Footage, „gefundenes Filmmaterial“ zeigt Vergangenes im fragmentarischen Zustand und kann in die Genealogie der Collage, des Ready-mades, der Assemblage und des Détournement gereiht werden. Blümlinger vergleicht den heute prominenten Zusammenschluss verschiedener Zeiten und Geschwindigkeiten innerhalb eines Bildes über Splitscreen-Technik, Überblendung, Wiederholung, Vergrößerung, Rückprojektion und andere Formen der Montage in der digitalen Komposition, mit den künstlerischen Strategien der Avantgarden des letzten Jahrhunderts. „(...) wir sind angesichts Found Footage und im Zeitalter digitaler Bildbearbeitung mit einer Umwertung der Werte konfrontiert: Begriffliche Oppositionen werden verschoben, aufgehoben oder neu definiert: zwischen Dokumentarischem und Fiktionalem, Authentizität und Fälschung, Realität und Vorstellung; aber auch zwischen Index und Ikon, Analogon und Schema, Gegenständlichkeit und Abstraktion. Dabei ist die Praxis des Found Footage so alt wie der Film selbst: die Verwendung von Vorgefundenem im Film ist dem Medium durch Montage und Reproduktivität gewissermaßen eingeschrieben.
In der Videoinstallation, Arbeiter verlassen die Fabrik in elf Jahrzehnten, angefertigt für die Ausstellung Kino wie noch nie in der Generali Foundation Wien, zeigten Antje Ehmann und Harun Farocki Szenen aus der Filmgeschichte, in denen Arbeiter_innen die Fabrik verlassen, simultan auf 12 Monitoren. Gezeigt wurde auch einer der ersten Filme überhaupt: La Sortie de l‘usine Lumière a Lyon – ein 45 Sekunden dauernder Kurzfilm der Brüder Lumière aus dem Jahr 1895. Eine Frontalaufnahme von ein paar Hundert Arbeiter_innen, die durch das Werkstor des Kameraherstellers strömen. Harun Farocki sieht in dieser Einstellung eine der grundsätzlichen stilistischen Mittel des Films begründet: „Das Werkstor formiert die von der Arbeitsordnung vergleichzeitigten Arbeiterinnen und Arbeiter, die Kompression erzeugt das Bild einer Arbeiterschaft.(...) Es ist augenscheinlich, wird aus der Anschauung gewonnen oder in ihr wiedergewonnen, dass die durch das Werktor Tretenden etwas Grundsätzliches gemeinsam haben.(...) Nachträglich, nachdem wir gelernt haben, wie Filmbilder nach Idee greifen und von diesen ergriffen werden, nachträglich sehen wir, dass die Entschiedenheit der Bewegung der Arbeiterinnen und Arbeiter repräsentativ ist, dass die sichtbare Menschenbewegung stellvertretend steht für die abwesenden und unsichtbaren Bewegungen der Güter, Gelder und Ideen, die in der Industrie zirkulieren. Schon in der ersten Bilderfolge wird die Hauptstilistik des Films begründet. Zeichen werden nicht in die Welt gesetzt, sondern im Wirklichen aufgegriffen. Als teile die Welt aus sich heraus etwas mit.“
Salto in Zusammenarbeit mit Kulturelemente