Der Frühling von Istanbul
Es könnte natürlich auch nur meine Einbildung sein, die mir vorgaukelt, Istanbul würde seit einigen Tagen aufblühen und eine lebensfrohe Stadt sein. Ich sehe ungewohnt viele lachende Mädchen, auch solche, die Kopftuch tragen. A propos Kopftücher : es gibt im Internet ein Video ( Mail online video auf stampa tv ) , das zeigt, wie aus IS-Herrschaft freigekommene syrische Frauen und Mädchen ihre Schleier wegreissen , sie in die Luft werfen und jubeln.
Beim Einkaufen in Cihangir kreuzen jetzt viele selbstbewusst auftretende junge Türkinnen, mit schicken Kleidern und Miniröcken, meinen Weg. Türkische Frauen mit dem schönen olivfarbenen Teint, der seidigen dunklen Haarfülle und den zarten Gliedmassen können wunderschön sein. Mich wundert nicht, dass Italiener, die aus Berufsgründen nach Istanbul kommen, durch die Reihe Türkinnen heiraten.
Heute war ich vollends baff, als aus der Firuzaga-Religionsschule bei mir ums Eck südamerikanische Klänge drangen. Ich eilte hin und traute meinen Augen nicht : Kinder und Jugendliche tanzten zu den lebensfrohen Rhythmen aus den Karibik-Ländern. Normalerweise wird bei Schulfesten zu türkisch-osmanischer Volksmusik getanzt.
Die alten Männer, die mit ihren Teegläsern in der Hand auf der Strasse ihre üblichen Sitzrunden abhalten, scheinen ihren Alltags-Gram abgelegt zu haben. Heute schwätzten und lachten sie laustark . Einige trugen gar farbige Hemden - eine Seltenheit auch in meinem europäischen Viertel, in dem wie im übrigen Istanbul die Kleiderfarben grau, braun , beige und schwarz vorherrschen.
Die beiden Frühstückscafes Van Kahvalti Evi in meiner Strasse sind neuerdings auch unter der Woche voll besetzt . Normalerweise stehen Istanbuler und Ausländer nur am Samstag und Sonntag Schlange, um das typisch türkische ( weil auch salzige ) Frühstück einzunehmen.
Wundersam auch, als ob der Heilige Geist eingegriffen hätte, dass die verschlossenen jungen Verkäufer in meinem Sok-Supermarkt nun plötzlich freiwillig englisch sprechen, wenn ich mit meinen türkischen Sprachbrocken nicht mehr weiterkomme. Und : der Kunde wird neuerdings angelächelt. Absolut undenkbar noch vor wenigen Wochen.
Die beiden kemalistischen ( Anhänger von Kemal Atatürk ) Schneider, die meine Jeans und Jackenärmel in höchst professioneller und preisgünstiger Weise kürzen, strahlten heute, als ich meine Kleidungsstücke abholte. Sie sind meine absoluten Lieblinge : immer freundlich, immer pünktlich, immer ein Lächeln auf den Lippen. Der ältere der beiden ist 85 Jahre alt.
Korrekterweise muss ich hinzufügen, dass die von mir wahrgenommene Veränderung auch auf zwei unpolitische Ursachen zurückzuführen sein könnte: erstens, dass hier endlich die Sonne scheint und zweitens , dass ich nun schon seit einem halben Jahr hier wohne. Die mir zuteil werdende Freundlichkeit könnte auch so zu erklären sein.
Der politische Frühling , den ich mir nicht einbilde, hat eine Nebenwirkung , die mich persönlich betrifft : viele Freunde und Bekannte, die seit meinem Umzug aus Rom einen Besuch in Istanbul angekündigt haben, wollen jetzt tatsächlich diese Reise antreten . Als ich vor den Wahlen fragte, weshalb sie nicht kämen, drückten sie sich ein wenig mit der Antwort. Aber es war klar, dass die Meldungen über Attentate und das Nahverhältnis des Staatspräsidenten zur mörderischen ISIS bei vielen die Reiselust stark einschränkte.
Ein befreundeter Fremdenführer sagte mir vor einigen Wochen, der Tourismus in Istanbul sei um 60 Prozent zurückgegangen, wegen der obgenannten Bedenken. Jetzt könnte die türkische Metropole wieder aufholen. Also : auf nach Istanbul, solange der Frühling anhält !