Stage | Poetry Slam

Rauschhaftes und Ernüchterndes

Die Landesmeister:innenschaften im Poetry Slam sind in die Vorrunden gestartet. Ein Blick in den Bozner Waaghaus-Keller, bevor es weiter nach Brixen und Meran geht.
Giuseppe Piccolo, Poetry Slam
Foto: SALTO
  • Es ging nach kurzer Einleitung von MC Lene Morgenstern, die das Format erklärte und in Folge durch den Abend führte, direkt ins Programm: Bevor es für die regulären Starter ins Feld ging, rief die MC das „Opferlamm“ des Abends auf die Bühne. Als Slammer außer Konkurrenz trat Giuseppe Piccolo (im Titelbild) mit einem Text über Bier an, um die Publikumsjury zu eichen. Dabei war er nicht irgendein Slammer, sondern amtierender italienischer Meister und es sollte nicht um irgendein Bier gehen: Birra Peroni. Obwohl bei der Saalumfrage mit Publikum niemand angab, bevorzugt auf die Marke zurückzugreifen, handelt es sich beim alkoholischen Getränk zumindest statistisch um das beliebteste Bier Italiens. Dem Slam Champion und Software-Entwickler im Bereich Robotik ging es dabei aber weniger ums Bier selbst, sondern um die ernüchternde politische Realität Italiens. So wurde in einem rasanten und sprachwitzigen Text schnell ein Giorgia Peroni Bier daraus. Er sah in ihm die einzig wahre italienische „bionda tradizionale“, die sich gar vor dem noch unbestimmten Geschlecht einer Hefe fürchtet.

  • Zu den Regeln des Poetry Slams

    Poetry Slam - oft als „Wettlesen um die Gunst des Publikums“ beschrieben - ist ein Bühnenformat, bei welchem die Teilnehmer:innen mit selbstgeschriebenen Texten auf die Bühne gehen und diese binnen eines Zeitlimits vortragen. Gesungen darf nur auszugsweise werden, Kostüme sind keine erlaubt.
    Bei der Landesmeister:innenschaft ist das Limit des Vortrags fünf Minuten in denen es durch Text und Vortrag eine zufällig aus dem Saalpublikum ausgewählte, in diesem fünfköpfige Punktjury zu überzeugen gilt, welche, inklusive einer Kommastelle, von 1 bis 10 Punktwertungen vergeben. Analog zum Eiskunstlauf werden Höchst- und Tiefstnote traditionell gestrichen. Es gewinnt den Abend wer die meisten Punkte in Runde 1 und 2 (ein „Stechen“ der besten fünf) summiert erhält.

  • Gottardi: Noch nicht so lange auf den Slambühnen des Landes unterwegs ist Sonia Gottardi ein Beispiel dafür, dass viele Slammer:innen gerne mehr als eine Sprache bespielen. Foto: SALTO

    Mit einem nicht nur aufgewärmten, sondern angeheizten Publikum konnte das einzige Duo des Abends, Carolina und Ida antreten. Das „Losglück“ ließ sie als erste an den Start gehen. Die beiden Oberschülerinnen hatten einen Textbeitrag zu Europa. Einerseits sah man ein Friedensversprechen, andererseits zeigte man sich auch enttäuscht. Stichwort: „Menschenrechte sind für alle (Europäer)“ und man sparte daher nicht an Kritik.

    Sonia Gottardi hatte Startplatz zwei und präsentierte einen italienischsprachigen Text aus der Sicht eines jungen Mädchens mit Essstörung. Die Geschichte aus einem Tagebuch mit lila Herz (das internationale Zeichen dieser Erkrankungen) markiert das Fortschreiten der Zeit Richtung Diagnose Anorexia nervosa mit gezählten Tagen und erschreckend weniger werdenden Kilos. Ein effektvoller Vortrag und starker Text brachten Gottardi mit 25,7 Punkten eine Runde weiter.

    Emanuele Vernillo, den man aus der Kulturszene Südtirols gut kennt, wenngleich nicht von der Slambühne, hatte Lyrik im Gepäck: In mehreren Gedichten ging es unter anderem ums Verzaubertwerden, den Abschied von „Müttern, Vätern und Brüdern“. Aus der Prüfung der Existenz gehen bleierne Blumen für Balkone aus Sand hervor. Einem Fixpunkt seiner Kindheit, einem blinden Hirten ohne Herde, widmet Vernillo ebenfalls eine nostalgische Ansicht. Am Ende waren die Gedichte für einen mündlichen Vortrag mit Zeitbegrenzung etwas zu dicht. 

    Juli hatte als nächste die Chance, das Publikum von ihrem Text zu überzeugen. Das Bild eines verirrten Vogels, der in der Wiener U-Bahn-Station Spittelau wiederholt gegen eine Anzeigetafel fliegt, verband sie mit Gedanken, die uns nicht loslassen. Gleichzeitig untersuchte die Meraner Slammerin die Unterschiede zwischen der lauteren Bühnenpersona – der „Figur“ – und dem leise einflüsterndem Ich. Der Kohlweißling brachte Juli eine Einsicht: „Mut ist kleiner als die Angst. Mut versteckt sich manchmal hinter der Angst und mag es gar nicht, angeschaut zu werden.“ Am Ende fasst sie sich ein Herz und widerspricht sich selbst. Nur Mut und vielleicht bringt der kommende Monat mehr Glück.

  • Buna sëra: Beziehungsthemen gehören zu den liebsten von Irene Moroder, gerne auch geschlechterkritisch. Foto: SALTO

    Die fünfte im Bunde, Irene Moroder brachte, nachdem sie den Abend mit ladinischem Gruß offiziell dreisprachig machte, einen deutschsprachigen Text ans Mikrofon. Vor einem digitalen weißen Blatt ringt Moroder mit abschweifenden Gedanken und Gespenstern. Am Ende bannt sie sie aufs Papier, Märchenfiguren inklusive und so steht irgendwann der „böse“ Rolf vor der Tür. „Ein Text ist entstanden, mit seinen Ecken und Kanten“ und auch wenn es am Ende des Vortrags mit der Zeit ausgesprochen knapp war und zu einem Mikrofonsturz kam, gab es 26,1 Punkte in der ersten Runde.

    Lena Trojer befasste sich damit, dass sie eigentlich einen schönen Text „mit schönen Reimen“ hatte schreiben wollen. Eigentlich. Stattdessen lassen sie Kriegsbilder nicht los, die sie nicht näher verortet. Europäische Gleichgültigkeit trifft auf die Erinnerung des Öhmchens, das immer noch weint, wenn sie vom Krieg erzählt, sowie auf Kriege und Abweisung der Gegenwart. „Dass das heute noch passiert, fühlt sich für mich an wie ein verlorener Krieg.“, schließt Trojer ihren Vortrag und erhält in Summe 26 Punkte.

    Filomena Hunglinger wagte als erste des Abends ein wenig Publikumsinteraktion: Neunmal insgesamt gab sie dem Publikum ein Zeichen für den Zwischenruf „Inspiration“, der vielstimmig und voll im kleinen Keller erklang. Die Beziehung zu Fremdsprachen und Vorurteilen innerhalb des eigenen Schreibens untersuchte Hunglinger am eigenen lyrischen Ich, das sich 24,8 Punkte auch verdiente. 

    Seamus Wimhurst machte die Drei- zur Mehrsprachigkeit, indem er einen humorvollen, „very british“ Text über einen unmöglichen Traum der Kindheit vor der Pause zum Vortrag brachte: Mit Hilfe von online erworbenen Nekromantie-Kenntnissen erfüllt sich Wimhurst den Kindheitstraum von „tea and cream“ mit der Queen. Erkenntnisgewinn aus dem Plausch mit Ihrer Majestät? Vielleicht ist man selbst nicht der einzige Mensch, der nur so tut, als ob er nett wäre. 27,9 Punkte belohnten insbesondere auch Seamus Wimhursts gespielt desinteressierte Art und Selbstverständlichkeit in der Performance. Die folgende Unterbrechung vor Runde zwei bot Zeit für einen Hopfentee und fürs Nachrechnen. 

  • Aus fünf mach drei

    Im folgenden Intermezzo außer Konkurrenz von Giuseppe Piccolo, erklärte der Süditaliener, was es bedeute in Maddaloni als Kind relativ wohlhabender Eltern aufzuwachsen. Ob es um caramelle oder canne ging, Piccolo konnte es sich im Gegensatz zu seinen Altersgenossen leisten. Auch in italienischer Sprache klappten die Mitmachpassagen im Text dabei sehr gut. Mit einem Stimmungshigh und erneutem Losen (in Runde zwei vor jedem Auftritt), wurde schließlich abermals Seamus Wimhurst auf die Bühne gerufen.

  • Ten points: Beim Einstand für die Vorrunden der Landesmeister:innenschaft gab es bislang keine perfekte Wertung. Seamus Wimhurst war dennoch nicht zu schlagen. Foto: SALTO

    Für seinen zweiten Text griff Wimhurst zu einem Klassiker aus seinem Archiv und befasste sich mit einer Feldstudie zu den sogenannten „party animals“. Auch wenn Wimhurst der Begriff alte Seele wie auf den Leib geschrieben zu sein scheint, so wollte der eingangs wohl an Naturforscher Sir David Attenborough angelehnte Anfang des Texts nicht ganz nach dem Vorbild klingen. Bitterböse und ohne falschen Respekt konnte auch die Studie zu den Primaten der Tanzfläche mit englischem Charme und Witz punkten. 27,6 Zähler nach starkem Abschluss der ersten Runde sollten schwer zu schlagen sein.

    Lena Trojer sinnierte, nach deutscher Einleitung, in englischer Sprache über Menschen, die selbst zum Wolf werden. Wir manipulieren, betrügen und schaden einander. Trojer wünscht sich eine fairere Welt, nur jammern ändert darannichts. 25,1 Punkte ist der Wunsch nach einer besseren Welt wert. Es gilt das Prinzip Hoffnung. 

    Die dritte im Bunde, Sonia Gottardi, wahrte die sprachliche Abwechslung mit einem deutschsprachigen Text, der ihrem Freund gewidmet war. Mit Lippenspielen erzählte sie die Geschichte ihres Kennelernens auf einer Party. „Nicht high, sondern nur verliebt“ suchen die Augen Kontakt zu einander bevor es die Körper tun. Der zarte Ton des Texts und der schüchtern glühende Vortrag der Poetin erhielten 26,2 Wertungspunkte.

    Vorletzte Poetin im Bewerb war Filomena Hunglinger, die den Freitagabend noch einmal zum Aufruf nutzte, um zur Teilnahme am Referendum aufzurufen. Nach dem Mut wandte sich Hunglinger der Wut zu. In ihrem lyrischen Vortrag ging es ihr darum, die Emotion zuzulassen, um nicht von ihr verzehrt zu werden. Die Stränge ihrer Fehler verwebt die Poetin zu einer Zierquaste, bevor sie zum Gesang übergeht, um noch mehr Emotion zuzulassen. Die Wut ist am Ende verflogen, es bleiben 25,8 Punkte.

    Vor einem Ausstand durch Giuseppe Piccolo in Zusammenarbeit mit der unermüdlichen Bühnenmusikerin Marlene Oberstaller und der Siegerehrung, hatte noch Irene Moroder Gelegenheit einen zweiten Text vorzutragen. Die von Moroder gern geschilderten Flirts führen das Publikum schon mal öfters zuerst in die falsche Richtung, um dann bei einer Lektion oder einer Pointe zu landen. Beim krummen Ding, das eine erfahrene Dame am Strand beaugapfelt,handelt es sich damit um einen Elefantenrüssel. 26,6 Punkte reichten in Summe mit jenen aus der Vorrunde für sie und auch für Sonia Gottardi sowie für den eindeutigen Sieger des Abends, um sich für das Finale im September zu qualifizieren. Seamus Wimhurst, der als Nichttrinker die Publikumsspenden für einen Cocktail mit nach Hause nehmen konnte, nahm den Sieg mit einem sehr flüchtigen Lächeln hin. Humor ist manchmal eben auch, wenn man gar nicht lacht.

  • Gruppenfoto: Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer beim Slam auf einen Blick, mit MC und Musikerin. Emanuele Vernillo fehlt am Bild. Foto: SALTO
  • Termine

    Vorrunde Zwei findet am 4. Juli im ost west club est ovest in Meran statt, Vorrunde Drei folgt am 21. August im Tschumpus in Brixen, wo außer Konkurrenz die zweifachen deutschen Teammeister Tommy und Annika zu Gast sein werden.