Politics | Zeitgeschichte

Tesselberg und der Piano Solo

Die brutale Polizeiaktion in Tesselberg muss man in einem viel weiteren Kontext stellen. Als Reaktion auf den gescheiterten Staatsstreich von Giovanni De Lorenzo.

Die terroristischen Aktivitäten des Befreiungsausschusses Südtirol (BAS) im Spätsommer und Herbst 1964 müssen im Zusammenhang mit den politischen Bemühungen Österreich und Italien gesehen werden, den Südtirolkonflikt durch ein Abkommen über eine Sonderautonomie zu lösen. Der Arbeitsbericht der Neunzehnerkommission, die Treffen der bilateralen Expertenkommission und die direkten Verhandlungen zwischen Giuseppe Saragat und Bruno Kreisky ließen im Herbst 1964 die Lösung der Südtirolfrage so nahe wie nie zuvor kommen.

Der BAS hatte von Anfang an aber nicht für die Erlangung einer Sonderautonomie für Südtirol gekämpft, sondern er wollte die Selbstbestimmung. Die Schüsse, die Mienen und die Bomben des BAS gegen Soldaten, Carabinieri und Finanzern im Sommer und Herbst 1964 sollten auch als Anschläge auf die politischen Bemühungen und die Dialogbereitschaft gesehen werden. Der BAS wollte durch Bomben den Vertragsabschluss zwischen Österreich und Italien und eine dadurch erreichte Befriedung Südtirols verhindern.
Gleichzeitig organisierte der italienische Staat in dieser Phase die Terrorismusbekämpfung in einer bis dahin nicht dagewesenen Proportion. Dabei wurden neben normalen militärischen Aktionen und legalen Geheimdienstoperationen auch „schmutzige Aktionen“, wie der Mord an Luis Amplatz durchgeführt. Hinter diesen Aktionen stand die Tatsache, dass große Teile des italienischen Polizei- und Geheimdienstapparates ebenfalls kein Interesse an der Befriedung der Region Südtirol hätten, wäre ihnen dadurch das wohl interessante innerstaatliche Betätigungsfeld und Operationsgebiet entzogen worden.
Südtirol war in den 60er Jahren als „Laboratorium und Erprobungsfeld“ für zum Teil gesetzeswidrige Aktionen der Geheimdienste - die in den 70er Jahren dann auf ganz Italien übergriffen und als „Strategie der Spannung“ in die Geschichte eingingen - zu wichtig, als dass man darauf verzichten wollte.
Antonio und Gianni Cipriani schreiben in ihrem Buch „Sovranitá limitata“ über die „Trainingshalle des Terrorismus in Südtirol“:

„Südtirol ist das erste Anwendungsfeld der Theorie der unorthodoxen Kriegsführung. Ein Laboratorium der Strategie der Spannung, das in den sechziger Jahren in großem Stil aufgezogen wurde, als sich in Italien das erste mal die Möglichkeit abzeichnete, dass die Sozialisten in die Regierung kommen könnten. Die Strategie wurde in allen Details erprobt: Anschläge, Bomben, Morde, eingeschleuste Agenten, Doppelagenten, Faschisten und Neonazis, die von den Geheimdiensten bezahlt wurden. Und vor allem Terror, um die Verhandlung zwischen Österreich und Italien rechtzeitig scheitern zu lassen.“

So müssen diese Aktionen der Terrorismusbekämpfung in Südtirol, die im kleinen Pustertaler Weiler Tesselberg zu purem Polizeiterror ausarteten, in eine gesamtitalienischen Rahmen und der damaligen nationalen politischen Situation gesehen werden.
Im Sommer 1964 scheiterte in allerletzter Minute ein rechtsgerichteter Militärputsch unter dem Oberbefehlshaber der Carabinieri Giovanni De Lorenzo. In den Monaten danach kam es innerhalb der Carabinieri, der Polizei und des Militärs zu heftigen Auseinandersetzungen. Dieser gescheiterte Putsch und die Streitigkeiten innerhalb der Carabinieri hatten - das ist heute durch Zeugenaussagen belegt - auch starken Einfluss auf die Ereignisse in Südtirol.

BAS-Offensive im Pustertal

Wie bereits in den Monaten zuvor ausgemacht, waren etwa Ende August nicht nur Luis Amplatz und Jörg Klotz in Innsbruck aufgebrochen, um illegal über die Grenze nach Südtirol zu gehen, sondern auch die BAS-Gruppe der sogenannten „Pusterer Buam“. Siegfried Steger, Josef Forer, Heinrich Oberleiter und Heinrich Oberlechner sollten, wie schon im Sommer 1963 im Pustertal ihr Aktionsgebiet haben.
In der Nacht des 27. August 1964 schlug die Gruppe das erste mal zu. In der Nähe von Percha fuhr ein mit sechs Soldaten besetzter Militärjeep auf eine Mine. Dabei wurden vier Soldaten verletzt. Knapp eine Woche später am 3. September wurde in Mühlwald durch das Fenster der Carabinierikaserne ein Schuss abgegeben, durch den der Carabinieri Vittorio Tiralongo tödlich verletzt wurde. Obwohl für beide Anschläge die vier Pusterer Buam verantwortlich gemacht wurden, kursieren bis heute Vermutungen das Tiralongo Opfer eines Eifersuchtsdramas geworden ist.
Der Mord in Mühlwald erregte in Italien großes Aufsehen. Drei Tage nach dem Vorfall sollte am 7. September in Genf das entscheidende italienisch-österreichische Außenministertreffen beginnen. Die Tat in Mühlwald und die Ermordung von Luis Amplatz, die während des Treffens in Genf bekannt wurde, warfen ihren Schatten auf die Gespräche zwischen Giuseppe Saragat und Bruno Kreisky.
In der Nacht vom 9. auf den 10. September September verübte die Pusterer BAS-Gruppe einen - in seiner Ausführung dem Anschlag von Percha identischen - zweiten Anschlag auf einen Militärjeep. In jener Nacht spannten die BAS-Leute bei Rasen Antholz einige Zentimeter über die Straße einen Draht, der mit einer Mine verbunden war. Als ein Jeep der Carabinieri gegen den Draht fuhr, explodierte die Mine. Die sechs Carabinieri, die sich im Jeep befanden wurden allesamt, zum Teil auch schwer, verletzt.

Bereits nach dem Anschlag vom 27. August und nach dem Mord an Vittorio Tiralongo, waren riesige Polizei- und Militäraufgebote ins Pustertal verlegt worden. Man wollte die Pusterer Buam unbedingt erwischen bevor sie wieder über die grüne Grenze nach Nordtirol gingen. Nach dem Anschlag vom 9. September setzte in der Umgebung von Rasen eine Großrazzia ein. Dabei kam es zu einer bis dahin in Südtirol noch nicht erlebten Massenverhaftung, bei der insgesamt über 500 Personen festgenommen wurde. So verhaftete man fast die gesamte männliche Bevölkerung der Orte Kematen, Mühlwald, Sand in Taufers und Mühlen.
Zu den brutalsten Polizeiübergriffen kam es in dem kleinen Weiler Tesselberg in der Gemeinde Gais.

Zeitzeugen aus Tesselberg

Die vier Pusterer Buam hatten im Pustertal und vor allem Ahrntal mehrere operative Stützpunkte, wo sie Waffen und Sprengstoff gelagert hatten und wo sie sich den Sommer über versteckten. Einer dieser Stützpunkte war eine Hütte am Dorfrand des kleinen Weilers Tesselberg in der Gemeinde Gais.
Siegfried Steger erinnert sich in seinen Buch an den 10. September 1964:

"Wir “ Puschtra Buibm“ setzten uns ab. Drei von uns sickerten in Tesselberg ein. Das waren Sepp Forer, Oberlechner Heinrich und ein weiterer, der nicht genannt sein will. Ich ging mit Oberleiter Heinrich einen anderen Weg zu unserem Stützpunkt, wo sich letztlich alle treffen sollten. Sepp Forer erreichte mit seinen Begleitern erst in den Morgenstunden Tesselberg. Sie waren also müde und übernachteten in einem Heustadel, ließen aber fahrlässig einen Spirituskocher auf einem Balken, außen gut sichtbar durch eine Öffnung, stehen. Auf Grund der häufigen Anschläge im Pustertal und der Fehlschläge, die „Puschtra Buibm“ zu fassen, wurde mehr als ein Bataillon an Polizeikräften und Eliteeinheiten im Raum Ahrntal und Tesselberg zusammengezogen. So entdeckte ein Polizist den Spirituskocher am Fensterbrett des Heustadels und alarmierte die Einsatzkräfte. "

Es kam zu einem Schusswechsel, bei dem der 20jährige Carabiniere Salvatore Patorniti  getroffen und verletzt wurde. Wenig später trafen mehrere Hundertschaften Militär und Polizei zur Verstärkung in Tesselberg ein. Daraufhin stürmten die Soldaten das Bergdorf und führten die Bewohner in Fesseln ab.
27 Jahre nach dem Vorfall, im August 1991, haben der Verfasser und ein befreundeter Journalist über ein Dutzend Zeitzeugen in Tesselberg interviewt. Dabei ist es gelungen ein recht detailliertes Bild der polizeilichen Übergriffe aufzuzeigen.
Die damals 80jährige Wirtin des Dorfgasthauses Luise Lahner erinnert sich an den 10. September wie folgt:

Am Vormittag kam hier die Nachbarin und sagte: »Du wir sind ganz an einem guten Ort, hast du gehört, in Salomonsbrunn im Antholzertal unten, da haben sie gestern einen Jeep in die Luft gesprengt und da hat es, so glaube ich, drei oder vier Tote gegeben«. Während wir darüber reden, das war am Vormittag vielleicht so um zehn, halb elf, sehen wir, dass immer mehr Jeeps mit Soldaten kommen. Nach einer Weile kommt dann mein Schwager und sagt: »Na da unten, haben sie in einen Schupfn hineingeschossen und der brennt jetzt«. Er wollte dann hinuntergehen und sich wehren. Als er dann zur Kirche hinüber gegangen ist, von der man genau auf den Schupfen hinuntersieht, haben sie zu ihm herauf geschossen. Er ist dann nur mehr über den Weg zu uns zurückgekrochen."

An diesem 10. September wurde den Tesselbergern auch ein alter harmloser Brauch zum Verhängnis. Denn just in den Moment, als die Truppen den Ort umstellten, wurden die Mittagsglocken geläutet, erinnert sich Johann Lercher:

"Wir sind Messner und um Zwölfe tun wir immer »Zwölfeleitn«. Meine Schwester ist dann »zwölfeleitn« gegangen und dann wurden die Soldaten ganz rebellisch, weil sie glaubten, das sei ein Alarm. Die Schwester sagte dann, dass wir alle Tage zu Mittag die Glocken läuten. Sie aber meinten das sei ein Zeichen."

Die Soldaten stürmten daraufhin das Dorf und durchsuchten alle Häuser. Johanna Lercher war gerade auf ihren Hof:

"Ich dachte mir ich sperre alles zu, damit sie nicht ins Haus rein kommen. Plötzlich klopft es aber beim Tor, ganz narrisch und wir sollen aufmachen, sonst schlagen sie das Tor ein. Dann habe ich aufgemacht. Wir mussten dann alle zum abgebrannten Heuschupfen hinuntergehen und die Männer wurden zusammengehängt."

Unter den an den Füssen zusammengebundenen Männern war auch Hans Oberparleiter:

"Wir mussten auf dem Bauch liegen, während uns die Ameisen über die Füsse herauf krochen. Einer hat andauernd mit dem Gewehr über unsern Köpfen gepasst. Einen aus dem Dorf haben sie niedergelegt, sind drauf gekniet und sind ihm mit einer brennenden Zigarette ins Gesicht gefahren. Das habe ich selbst gesehen. Es ist ein wirkliches Wunder, dass es keine Toten gegeben hat. So sind wir fünf, sechs Stunden lang, von halb eins bis sechs gelegen. Dann haben sie uns auf Militärlastwagen und nach Mühlen gebracht. Dort waren wir drei Tage, während sie uns verhört haben."

Johann Lercher, der Messner, war am Vormittag des 10. September bei der Arbeit im Nachbarort Gais. Auch dort hörte man, was in Tesselberg passierte:

"Ich hörte eine Schießerei und sah Rauch und dass es brennt. Ich sah gleich, das es hier wild aufgeht. Als ich dann nach Hause ging, der Nachbar hier war mit mir, da haben sie uns dort unten, bei der Abzweigung von Gais auf Aufhofen festgehalten und nicht mehr weitergehen lassen. Es wurde dann Nacht und dann kam die ganze Gruppe aus Tesselberg..[...]..Sie haben uns dann nach St. Georgen gebracht und dort verladen. Ich dachte mir schon jetzt gehts über »die Walsch« hinunter. Gottseidank ging es dann taleinwärts nach Mühlen. Dort sind wir dann die ganze Nacht beim Hasenwirt gesessen. Wir wurden die ganze Nacht bewacht und am nächsten Tag wurden wir einzeln verhört."

Während die Männer gefesselt nach Mühlen abtransportiert wurden, mussten die Frauen und Kinder von Tesselberg die Nacht im Dorfgasthaus verbringen. Luise Lahner, die damalige Wirtin, erinnert sich:

"So gegen Abend haben sie dann die Frauen und die Kinder vom ganzen Dorf zu uns gebracht. Wir haben ihnen dann etwas gekocht und danach haben alle hier geschlafen. Wir haben von den Zimmern Matratzen und Liegestühle zu­sammengetragen, damit die Leute ein wenig liegen konnten. Die Soldaten waren immer anwesend, auch hier im Haus waren sie, aber angetan wurde niemanden etwas."

Während die Bevölkerung von ihren Häusern ferngehalten wurde, durchsuchten die Polizei- und Militäreinheiten die Häuser und Höfe. Dabei wurde nach bekannter Kriegsmanier vorgegangen. Mobiliar wurde zertrümmert, alles drunter und drüber geworfen und mehrere persönliche Sache kamen den Bauern abhanden. In mehrere Höfe wurde auch hineingeschossen oder es wurden Handgranaten geworfen. Dabei brannten eine Heuschuppen und eine Sägemühle der Familie Engl ab. In einem vom Dorf angelegen Hof wurde die taubstumme und gehbehinderte Mathilde Mayr angeschossen. Glücklicherweise blieb der Streifschuss aber ohne Folgen.
Johann Lercher erklärt sich 1991 diese Überreaktion der Soldaten mit der Tatsache, dass die Uniformierten einfach Angst hatten:

"Die haben überall in den Stall hineingeschossen. Bevor sie hineingegangen sind, haben sie erster hineingeschossen."

Die Ereignisse vom 10. September 1964 in Tesselberg hatten zweifache juridische Folgen. Zum einen wurde die Tageszeitung Dolomiten, die ausführlich über die Vorfälle berichtet hatte, vom Bozner Carabinierikommandanten Francesco Marasco verklagt, zum anderen erstatteten die Einwohner von Tesselberg, Anzeige gegen Oberst Marasco und weiteren sieben namentlich genannten Carabinieri wegen Körperverletzung, Sachbeschädigung und Diebstahls.
Ende Oktober 1965, also über ein Jahr nach den Vorfällen endeten beide Verfahren mit Freisprüchen. Während die Tageszeitung Dolomiten freigesprochen wurde, weil ihre Berichterstattung keine strafbare Handlung darstellte, wurde auch das Verfahren gegen den Leiter der Polizeiaktion Francesco Marasco eingestellt. Untersuchungsrichter Mario Martin stellte fest, dass nicht Marasco den Befehl gegeben hatte, die Bewohner von Tesselberg zu fesseln, sondern, dass dies von unbekannt gebliebenen Carabinieri in Eigenregie durchgeführt worden war.
Erst 25 Jahre nach diesen Freispruch sollten Zeugenaussagen auftauchen die diese These eindeutig widerlegen und die aufzeigen, dass im September 1964 in Tesselberg weit mehr passieren hätte können.

Giovanni De Lorenzo und der Piano Solo

Diese Ereignisse in Südtirol waren keine individuellen Aktionen, bei denen einige übereifrige Ordnungshüter das richtige Maß verloren haben, sondern sie müssen in einem weit größeren Zusammenhang gesehen werden. Im Sommer 1964 stand Italien unmittelbar vor einem militärischen Staatsstreich, der vom amerikanischen Nachrichtendienst CIA unterstützt wurde und dessen Hauptorganisator der Oberbefehlshaber der Carabinieri Giovanni De Lorenzo war.
Die USA und sein Geheimdienst - anfänglich das "Office of Strategic Service" (OSS), dann ab 1947 die "Central Intelligence Agency" (CIA) - hatten wie in vielen anderen westlichen Ländern Pate bei der Schaffung des italienischen Geheimdienstes SIFAR gestanden. Doch die USA hatten in Italien der 50er und 60er Jahre einen Einfluss auf den SIFAR und damit zusammenhängend auf inneritalienische Vorgänge, der weit größer war als in anderen westlichen Ländern und der weit über die übliche nachrichtendienstliche Zusammenarbeit hinausging.
So hatte die CIA und die amerikanische Botschaft in Rom auch bei der Ernennung von Giovanni De Lorenzo zum Chef des SIFAR ein bedeutendes Wort mitgeredet, war De Lorenzo doch der Mann den sich die USA zur Führung des italienischen Geheimdienstes wünschte: streng antikommunistisch und extrem Amerika freundlich eingestellt.

Der Bologneser Journalist und Historiker Roberto Faenza analysierte in seinem Standardwerk "Il malaffare" die Zusammenarbeit SIFAR-CIA nach der Ernennung De Lorenzos:

"Ab diesem Moment ist der SIFAR mit Händen und Füssen an die Interessen der Regierung der USA gebunden. Ein erstes Bespiel der Zusammenarbeit SIFAR-CIA ist, die von Colby an De Lorenzo herangetragene Aufgabe, in den Räumen des Quirinals und in der Bibliothek des Vatikans eine Reihe von Mikrophonen zu installieren, damit man die persönlichen Gespräche des italienischen Staatsoberhauptes und die des Papstes aufnehmen kann."

Im Sommer 1963 zeichnete sich das erste mal das Scheitern der bis dahin aufrechterhaltenen Zentrumsregierung ab und Aldo Moro wurde beauftragt die erste Mitte-Links-Regierung in Italien zu bilden. Dieser Versuch scheiterte aber vorerst an der Ablehnung des "Partito socialista italiano" (PSI). Erst nach einer erneuten Regierungskrise, kam es im Dezember 1963 zur Bildung der ersten Mitte-Links-Regierung im Nachkriegsitalien.
Für viele erklärte Antikommunisten, vor allem in den Reihen des italienischen und des amerikanischen Geheimdienstes war diese Regierungskoalition aber der erste Schritt der Kommunisten zur Machtergreifung in Italien. In Geheimdienstkreisen begann man mit Unterstützung der großen italienischen Industriellen Gegenmaßnahmen gegen diese politische Konstellation zu treffen. Einer der Hauptbeteiligten war dabei Giovanni De Lorenzo, der im Frühjahr 1964 einen Plan zum Sturz der Mitte-Links-Regierung ausarbeitete.
Der Plan erhielt den Namen "Piano Solo", weil bei seiner Ausführung allein gewisse Einheiten der Carabinieri eingesetzt werden sollten. Diese sollten an einem bestimmten Tag X, der von De Lorenzo bekanntgegeben würde, alle Sitze der Linksparteien, die Fernseh- und Rundfunkstationen und die wichtigsten Zeitungsredaktionen besetzen und alle wichtigen linken Persönlichkeiten verhaften.
Als im Frühsommer 1964 die erste italienische Mitte-Links-Regierung in eine ernste Krise schlitterte, schien der Tag X für den Piano Solo gekommen zu sein. Am 26. Juni 1964 beordnete Giovanni De Lorenzo die Oberbefehlshaber, der wichtigsten Carabinierieinheiten zu sich nach Rom. Am Vormittag des 27. Juni wurden auf einer geheimen Sitzung zwischen diesen Generälen, De Lorenzo und den Leitern des SIFAR, die Befehle für den Tag X und die Listen der zu verhaftenden Personen ausgegeben. Der Termin wann der Staatsstreich ausgeführt werden sollte, sollten den einzelnen Befehlshabern telefonisch erfahren.
Dieser Befehl wurde aber nie gegeben, denn im allerletzten Moment wurde der "Piano Solo" abgeblasen. Ob dies auf Weisung des eingeweihten Partners USA geschehen ist, oder ob das Abgehen der Sozialisten von ihren politischen Maximalforderungen schon g­enügte, um den Staatsstreich zu stoppen, ist bis heute nicht genau klar. Öffentlich bekannt wurde der versuchte Staatsstreich erst Jahre später durch die Enthüllungen des italienischen Nachrichten Magazins L'Espresso vom 11. Mai 1967.

Der Piano Solo und Südtirol

Selbst der nichtausgeführte "Piano Solo" hatte aber schwerwiegende Folgen. Denn die Machenschaft von Giovanni De Lorenzo waren trotz strenger Geheimhaltung vielen Carabinieri- und Heeresfunktionären nicht verborgen geblieben. So kam es in den Monaten vor und nach dem "Piano Solo" zu einem erbitterten Machtkampf innerhalb der Carabinieri zwischen De-Lorenzo-Anhängern und jenen die die Machenschaften ihres Oberkommandierenden ablehnten. Besonders stark wogen diese Carabinieri-internen Auseinandersetzungen im „Krisengebiet Südtirol“. Giovanni De Lorenzo begann im Klima des versuchten und gescheiterten Staatsstreiches im Herbst 1964 in Südtirol illegale Polizeiaktionen, wie etwa die brutale Razzia in Tesselberg, anzuordnen.
Erst im Sommer 1991 begannen im Zuge der Gladio-Ermittlungen der beiden Venezianischen Untersuchungsrichter Felice Casson und Carlo Mastelloni auch Einzelheiten über diese von De Lorenzos in Süd­tirol in jenem heißen Herbst 1964 befohlen illegalen Aktionen aufzutauchen. Der Carabinieri Oberst Renzo Monico, der zwischen 1962 und 1969 für die SIFAR-Aussenstelle in Bozen tätig war, berichtete über einen von Giovanni De Lorenzo - wenige Tage vor dem Amplatz-Mord - ausgegebenen Mordbefehl an Südtiroler Terroristen. Renzo Monico erklärte am 5. Juli 1991 vor Untersuchungsrichter Mastelloni:

"Im Sinne meiner Tätigkeit und der Informationen die ich sammelte, berichtete ich auch dem Leiter der Carabinieri Legion (Bozen - A.d.V.) Oberst Marasco, der nach dem Mord an einem Carabinieri - ich glaube Tiralongo - an eine Repressalie dachte. Er berief mich in die Kommandostelle der Gruppe, wo ich ihn alleine antraf und wo er mir sagte, dass er Erfahrung im Umgang mit den Terroristen braucht und schließlich, dass er auf Befehl von De Lorenzo einen oder zwei Südtiroler Terroristen töten wolle. Wir begannen die Karteikarten zu sichten und darin blätternd, musterte ich die Namen möglicher Objekte aus. Marasco behauptete, dass De Lorenzo ihn angerufen habe und dass er verlangte, dass einige Leute eliminiert werden sollen. Am Ende der Besprechung sagte ich ihm, dass ich da nicht mitmachen würde und machte zudem geltend, dass die Objekte allesamt unauffindbar seien. Er hat daraufhin De Lorenzo angerufen und ihm mitgeteilt, dass ich nicht mitarbeiten wolle. Daraufhin übergab er mir den Hörer."

Nach diesem Gespräch, so berichtet Monico weiter, seien beide am nächsten Tag nach Rom zu einer Aussprache mit Giovanni De Lorenzo berufen worden.
Auch die Umstände, die zur Polizeiaktion in Tesselberg geführt hatten, begannen sich im Sommer 1991 genauer aufzuhellen. Dabei stellte sich heraus, dass auch in diese Polizeiübergriffen Giovanni De Lorenzo und seine rechte Hand in Südtirol Franco Marasco verwickelt waren. Denn im Juli 1991 meldete sich plötzlich der Carabinierigeneral Giancarlo Giudici in einem Zeitungsinterview zu Wort.
Giudici war Kommandant einer jener besonders ausgebildeten Carabinierieinheiten, die während des "Piano Solo" eingesetzt werden sollten. Er sollte mit seiner Einheit, den römischen RAI-Sitz stürmen. Nach dem Scheitern des Planes wurde die Einheit zur Terrorismusbekämpfung nach Südtirol verlegt. Giancarlo Giudici war mit seiner Kompanie in den ersten Septembertage 1964 an den Durchsuchungen im Pustertal beteiligt. Es waren seine Männer, die am Vormittag des 10. September in Tesselberg die brutale Razzia durchführten.
Giudici erinnert sich im Interview an die Vorfälle in Tesselberg:

"Meine Männer durchsuchten die Gegend und fanden im Wald etwa fünfzehn Leute aus dem Dorf. Während ich diese kontrollierte, landete ein Hubschrauber des Heeres, aus dem der Oberst Marasco stieg und schrie: »Du hast 15 Personen festgenommen. Stell sie an die Wand und erschiesse sie und dann zünde die Häuser an«. Ich glaubte meinen eigenen Ohren nicht und sagte ihm, dass sich nicht einmal die Deutschen so benommen hätten. Er aber schrie weiter und drohte mir: »Ich werde dich wegen Befehlsverweigerung anzeigen«..[...]..Danach habe ich von einen Leutnant erfahren, dass Marasco von der Kaserne in Toblach aus De Lorenzo angerufen hat und ihm mitgeteilt hat, dass sich das Batailon gut verhalten hätte, dass ich mich aber geweigert hätte zu kämpfen. Am selben Abend noch erhielt ich eine Depesche: Ich bin ab sofort als Vizekommandant zur Legion in Udine versetzt und muss mich innerhalb des nächsten Tages an meinen neuen Arbeitsplatz melden."

Es gibt zwei Quellen, die diese Aussage untermauern. Am 13. September 1964 meldete der Alto Adige, dass drei Carabinierioffiziere plötzlich versetzt wurden unter ihnen Giancarlo Giudici.
Zudem wurde, wiederum im Zuge der Gladio-Ermittlungen im Sommer 1991, ein weiteres brisantes Dokument bekannt. Der Carabinieri-General Giorgio Manes - ab 1962 stellvertretender Oberkommandant der Carabinieri - bekleidete dieses Amt auch in der Phase als De Lorenzo seinen "Piano Solo" in die Tat umsetzten wollte. Manes war von Anfang an ein erklärter Gegner De Lorenzos und begann in seinen Tagebüchern über die illegalen Praktiken seines Vorgesetzten und dessen Anhängern genau Buch zu führen.
Die Tagebücher, die im Sommer 1991 von der Witwe des inzwischen verstorbenen Generals Giorgio Manes der parlamentarischen Untersuchungskommission "commissione stragi" übergeben wurden, enthalten auch zwei Seiten in denen ausschließlich auf Südtirol Bezug genommen wird. In der Eintrag vom 30. August 1965 befasst sich Manes mit Oberst Franco Marasco und den Vorgängen in Tesselberg:

"Oberst Marasco erklärte nach der Ermordung des Carabinieri Tiralongo, dass er 600 Verhaftungen durchführen lassen würde. Corrias (stellvertretender Staatsanwalt von Bozen - A.d.V.) widersetzte sich, da er, wie er sagte, nicht apriori die Zahl der Verhaftungen festlegen könne und dass die Vollmacht, die er ihm ausgestellt hatte, nur auf die nötigen Verhaftungen beschränkt sei. Corrias missbilligte die Razzia von Tesselberg, weil dabei jegliche Kontrolle über die Soldaten fehlte, die gesetzlichen Normen nicht eingehalten wurden und wegen der anschliessenden Proteste und Anzeigen der Geschädigten, die man im Nachhinein zum Schweigen zu bringen versuchte."
In der selben Eintragung berichtet Manes auch über die Versetzung von Giancarlo Giudici:

"Die Sache der 5 Südtiroler, die für jeden Carabiniere oder Italiener zu erschiessen sind, war Teil des Streites zwischen Oberst Marasco und dem Oberstleutnant Giudici, der diesen Order ihm zuordnete und von dem Marasco gesagt haben soll, dass es eine Direktive des Oberkommandanten (Giovanni De Lorenzo - A.d.V.) sei. Er lässt Giudici liquidieren, in dem er behauptet, dass er mit dem von diesem geführten Batailon, niemals irgendjemand verhaftet hatte."

Der stellvertretende Oberkommandant der italienische Carabinieri, General Giorgio Manes ließ es auch sonst nicht an Deutlichkeit in seinen Tagebüchern fehlen. In der Eintragung vom 1. September 1965 heißt es:

"Viele Attentate in Südtirol wurden vom Geheimdienst gestellt ..[...] Die Pistole mit der Amplatz erschossen wurde, gehörte einem Hauptmann der Kompanie von Brixen."

Der Geheimdienst hätte viele Attentate selbst durchgeführt, um sie dem BAS in die Schuhe zu schieben, schrieb Giorgio Manes sinngemäß im September 1965 in sein Tagebuch. Damit bekam ein in Südtirol schon lange gehegter Verdacht einen prominenten Zeugen.
Als 26 Jahre später dieser Satz bekannt wurde, begann im Sommer 1991 eine Sicht der Dinge aufzutauchen, die vereinfacht betrachtet die These vertrat: Verschiedene fehlgeleitete Geheimdienstabteilungen, Gladio und neofaschistische Gruppen haben in Südtirol Attentate und Morde begannen. Der BAS war plötzlich nur mehr für die Feuernacht verantwortlich und für einige weitere Sabotagesprengungen.
Die notwenige Aufdeckung der illegalen Machenschaften der Geheimdienste im Südtirol der 60er Jahre ging über in eine unkritische Reinwaschung und Heiligsprechung der Südtiroler BAS-Leute.
Und das ist bis heute in manchen Kreisen so geblieben.

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Willy Pöder Fri, 09/12/2014 - 18:25

"(..) die Pistole mit der Amplatz erschossen wurde, gehörte einem Oberst von der Kompanie in Brixen." Eine Kompanie wird in der Regel von einem Hauptmann (Capitano), manchmal auch von einem Oberleutnant (Tenente), aber bestimmt nie von einem Oberst kommandiert, geschweige denn, dass ein Oberst in einer Kompanie dient. Aliquid olet!

Fri, 09/12/2014 - 18:25 Permalink
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Martin B. Fri, 09/12/2014 - 21:22

In reply to by Martin B.

Die Stellungsnahme von Cuno Tarfusser in der TZ zu Amplatz und auch solche Artikel von Christoph Franceschini entsprechen meinen Vorstellungen einer sachlichen Herangehensweise und Aufarbeitung. Solange die "staatlichen" Hintermänner von Kerbler, des Tesselberger Terrors, usw. keine staatliche (sprich gerichtlich objektive und ernsthafte) Aufarbeitung erfahren, bleibt das Feld für die Extremisten beider Seiten (pro Tirol/Italien) frucht- und besetzbar; also wohl für immer. Insbesondere finde ich es beschämend, dass diese staatlichen Hintermänner (inklusive der Ausführenden) später staatliche Ehrungen und Auszeichnungen erhielten. Kein Wunder, wenn die Gegenseite Amplatz & Co einseitig hochleben lässt. Zur Motivation von BAS und insbesondere von Sepp Kerschbaumer muß jeder gerechtigkeits- und freiheitsliebende Mensch Sympatie empfinden, zumindest ist das bei mir so.

Fri, 09/12/2014 - 21:22 Permalink
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Christian Mair Sat, 09/13/2014 - 10:36

In reply to by Martin B.

aktueller Bezug:
"Ob die Attentate .... geschadet oder genutzt haben...war ....umstritten. Heute geht man davon aus, dass die Attentate vor allem der italienischen Seite genutzt haben, da durch sie die Möglichkeit einer Südtiroler Selbstbestimmung, welche die Attentate ja herbeiführen sollten, diskreditiert wurde." http://de.wikipedia.org/wiki/Sepp_Kerschbaumer

Sat, 09/13/2014 - 10:36 Permalink
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Michael Bockhorni Thu, 09/18/2014 - 11:05

diese erkenntnisse (und auch ähnliche aus der RAF zeit in deutschland) sind hilfreich, wenn mensch aktuelle berichte über angebliche oder wirkliche terroranschläge in den verschiedenen weltgegenden liest oder hört.

p.s. bezeichnend finde ich ja auch für das militär, dass Renzo Monico von "objekten" spricht und dabei menschen meint.

Thu, 09/18/2014 - 11:05 Permalink