Society | Interview

Mathematisch wertvoll

Der Brixner Mathematiktag ist ein Muss für Lehrerinnen, Lehrer, Pädagoginnen und Pädagogen, die Kinder dabei unterstützen wollen, ihre mathematischen Kompetenzen zu entfalten. Ein Gespräch mit Michael Gaidoschik über Didaktik, die mathematisch wertvoll ist.
Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
Kind und Mathematik
Foto: Pixabay, Gerd Altmann
  • Mathematik ist überall, man muss sie nur entdecken. Damit Lehrerinnen und Lehrern, Pädagoginnen und Pädagogen dies gelingt, bietet die unibz in Kooperation mit der Pädagogischen Abteilung der Bildungsdirektion alljährlich im Oktober den Brixner Mathematiktag an. SALTO hat mit Professor Michael Gaidoschik über Quader und Quadrate und den mathematischen Wert von Bauecken und Brettspielen gesprochen.

    SALTO: Professor Gaidoschik, wie ist es denn um das Mathematikverständnis von Südtirols Kindergartenkindern und Grundschülern bestellt?

    Gaidoschik: Sie fragen jetzt, wie es bei den Kindern ist. Wir setzen ja bei den Pädagoginnen und Pädagogen an, damit die es den Kindern vermitteln können. Aber wenn Sie die Kinder schon ansprechen: es gibt viele Studien und Untersuchungen, auch die nationale Erhebung INVALSI, an der Südtirol teilnimmt. Die Ergebnisse sind so, dass man nicht unbedingt vor Glück strahlen muss, es zeigen sich eher Probleme und daran hat auch Covid seinen Beitrag geleistet. Es gibt also noch viel Luft nach oben und wir versuchen mit Brima den Pädagoginnen und Pädagogen Impulse zu geben, damit sie der Situation entsprechend agieren können.

    Für Mathematik bleibt recht wenig Zeit.

  • Foto: Bildungsdirektion, Anna Uhl

    Wie kann man Mathematik so vermitteln, dass Kinder motiviert mitmachen und sich gleichzeitig bewusst werden, dass sie jetzt Mathematik machen? Die Bauecke im Kindergarten ist zum Beispiel ein erster Zugang zur Geometrie, aber das weiß ja das Kind nicht. Wie sag ich’s meinen Kindern?

    Der Kindergarten ist eine Bildungsinstitution, in der es auch schon um frühe mathematische Bildung geht. Die Pädagoginnen und Pädagogen, die aktuell in den Kindergärten arbeiten, haben dafür unterschiedlich viel gezielte Ausbildung erhalten. Ihre Aufgabe ist jedenfalls gewaltig: Im Kindergarten müssen Grundkompetenzen in vielen Bildungsfeldern vermittelt werden, von Musik über Bewegung, natürlich auch Sprache, und eben auch Mathematik. Auch innerhalb des Universitätsstudiums bleibt dann für Mathematik recht wenig Zeit. 

  • Zur Person

    Michael Gaidoschik ist Professor für Didaktik der Mathematik in Grundschule und Kindergarten an der unibz. Er stammt aus der Nähe von Wien und lehrt und forscht seit 2016 an der unibz. Sein Ziel ist es, Forschung zu machen, die für die Lernbegleitung im Kindergarten und für den Unterricht relevant ist und das geht, nach seiner Auffassung, nur in Kooperation mit Kindergärtnerinnen und Lehrkräften.

  • Mathematik ist aber doch in allen Dingen…

    Ja, das ist so ein beliebter Spruch, in dem sicher viel Wahres steckt. Man muss die Mathematik in den Dingen aber auch entdecken. Wenn Kinder etwa mit Bauklötzen spielen, spielen sie eben mit Bauklötzen, wie viel sie dann dabei wirklich an mathematischen Kompetenzen aufbauen, hängt sehr stark davon ab, ob sie das gänzlich für sich machen oder ob sie auch gezielt dazu angespornt werden, das eine oder andere auszuprobieren. Natürlich kann ich beim Bauspielen wesentliche geometrische Grunderfahrungen machen, aber mit größerer Wahrscheinlichkeit macht die ein Kind dann, wenn Fragen gestellt werden, Anregungen gegeben, wenn die Kinder zum Sprechen über ihre Gedanken eingeladen werden, und wenn es im Spiel auch darum geht, ein bestimmtes Ziel zu verfolgen. 

    Was ist der geometrische Fachbegriff für die Form einer Schuhschachtel?

    Also Größenverständnis, schätzen, Bausteine zählen und solche Sachen?

    Beim geometrischen Verständnis sollte es eher darum gehen, bestimmte Begriffe zu lernen, also müssen die Begriffe auch verwendet werden, sonst lerne ich sie nicht. Was ist beispielsweise der geometrische Fachbegriff für die Form einer Schuhschachtel?

    Quader.

    Jetzt ist aber der Quader – vom Wort her – sehr nahe am Quadrat. Das ist dann manchmal schwierig auseinanderzuhalten. Es muss also darum gehen, sich das Vokabular anzueignen und wichtige Eigenschaften zu erkennen und aus den Eigenschaften dann Schlussfolgerungen abzuleiten. Welche geometrische Figuren kann man gut stapeln, welche nicht so gut stapeln, mit welchen kann man eine Ebene vollständig auslegen, wo bleiben Lücken…Das sind dann schon weitergehende geometrische Kenntnisse.

  • BRIMA

    Der Brixener Mathematiktag (Brima) ist eine Weiterbildung für pädagogisches Fachpersonal an deutschsprachigen und italienischsprachigen Kindergärten und Grundschulen. Durch Brima entstehen seit 2017 wertvolle Kontakte zwischen den Forschenden an der unibz und Lehrkräften. Im Rahmen des Brima werden den Kindergärtnerinnen und Lehrkräften didaktische Konzepte entwickelt, die sich dann in der Praxis beweisen können. Kooperationspartner von Brima ist die Pädagogische Abteilung innerhalb der Bildungsdirektion.

  • Ganz wichtig ist für Sie das räumliche Vorstellungsvermögen. Warum?

    Weil man das im Alltag sehr oft braucht. Kann ich da noch einparken? Passt das Möbelstück da noch hin? Hier merkt man die eigenen Grenzen recht schnell. Manche können das einschätzen, andere müssen es ausprobieren. Vor allem die Raumvorstellung, das wissen wir aus der Forschung, ist abhängig von frühen Lernprozessen. Zurück zum Bauen in der Bauecke: das konkrete Handeln mit den Materialien ist die Basis, aber dann sollte auch angeregt werden, dass Kinder sich zunächst etwas vorstellen, sich überlegen, wie wird das ausschauen, und erst dann macht man es und überprüft, ob es wirklich so geworden ist, wie man es sich vorgestellt hat.

    Brauchen aber Pädagogen – vor allem im Kindergartenbereich – nicht eine große Fähigkeit, situativ schnell reagieren zu können, also zu erkennen, dass ein Kind gerade ein mathematisches Thema entdeckt hat, um dann schnell und umfassend darauf einzugehen?

    In der Tat. Für den Kindergarten wird ja keine Mathematikstunde vorbereitet und dann abgehalten. Es ist daher wichtig zu erkennen: da könnte ich jetzt was probieren, da könnte ich jetzt einen Impuls geben. Äußerlich passiert da erstmal gar nicht viel. Es reicht, eine Frage zu stellen. Das kann schon viel bewirken. Das muss ich aber in der Situation erkennen und das ist schwierig.

    Kann man Pädagogen auf solche Situationen vorbereiten?

    Ja, bei unserer Weiterbildung. Wir zeigen Beispiele auf und machen Möglichkeiten deutlich, die man auch in anderen Situationen mit anderen Kindern und unter anderen Rahmenbedingungen anwenden kann.

    Kinder verstehen relative Begriffe, wie „groß“ oder „klein“, zunächst absolut.

    Angenommen, ein Kind baut einen sehr hohen Turm und ein anderes Kind baut einen nicht ganz so hohen, aber dafür breiteren Turm – ist es dann gut zu fragen, wer hat den größeren Turm gebaut oder ist das pädagogisch wertlos?

    Das zeigt wieder die Wichtigkeit der sprachlichen Verarbeitung. Was heißt denn überhaupt Größe? Das ist ganz wesentlich. Beispiel: das abstrakte Konzept Länge wird sprachlich mit ganz unterschiedlichen Wörtern zum Ausdruck gebracht. Höhe, Breite, Tiefe, Umfang  – das sind alles Längen. Wenn eine Kindergärtnerin eine solche Situation erkennt, ist es aus meiner Sicht lohnend diese Frage zu stellen. Hinzu kommt, dass Kinder relative Begriffe, wie „groß“ oder „klein“, zunächst absolut verstehen. Daher ist es wichtig Kinder sehr früh mit Relationen vertraut zu machen.

    Beim Blättern im Programm ist mir aufgefallen, dass die italienischsprachigen Beiträge sehr stark dem Kommunikationsfaktor in der Vermittlung von Mathematik widmen. Wie kommt das?

    Wir haben hier wirklich zwei verschiedene mathematik-didaktische Kulturen, wenn man so will. Das war für mich auch eine Erkenntnis. Auch die Fachdidaktiken und Unterrichtsmaterialien haben sich wirklich unabhängig voneinander entwickelt und so kommt es, dass in den italienischsprachigen Workshops teilweise ganz andere Schwerpunkte gesetzt werden als in den deutschsprachigen. Gerade deswegen kann es lohnen, wenn deutschsprachige Lehrkräfte die italienischsprachigen Workshops besuchen und umgekehrt.

    Strategiespiele und Tangram und was es alles gibt: in Kindergarten und Grundschule sind das Angebote, die immer noch gemacht werden. Wie sieht es aber in den Familien aus? Kennen Kinder das noch von zuhause oder sammeln die erste Erfahrungen mit Brett- und Strategiespielen wirklich erst in den pädagogischen Einrichtungen?

    Ich hab‘ dazu keine Forschungsbefunde, was Südtirol betrifft. Generell ist es aber so, dass man nicht voraussetzen kann, dass Kinder Brettspiele kennen. Aus mathematischer Sicht ist das sehr bedauerlich, weil alleine schon der Spielwürfel, den ich bei einem Brettspiel üblicherweise verwende, geometrisch und arithmetisch unglaublich viel hergibt. Das ist also durchaus etwas, was vielleicht im Kindergarten überhaupt den Kindern bekannt wird und dort aber hoffentlich bekannt wird.

    Es ist kein Vergehen gegen das Individuum Kind, wenn man ihm ein Brettspiel vorlegt.

    Wieso? Haben Sie da Zweifel?

    Es gibt die Überzeugung, dass Kindergarten nicht verschult werden darf und das ist auch völlig richtig. Kindergarten soll offene Pädagogik betreiben. Das darf aber nicht in die falsche Richtung führen, als wäre es quasi schon ein Vergehen gegen das Individuum Kind und die Freiheit des Kindes, wenn man ihm ein Brettspiel vorlegt und seinem Fantasiespiel nicht einfach freien Lauf lässt. Wir versuchen deutlich zu machen, dass man auch im Kindergarten gezielt Angebote machen kann. Jedes Mal, wenn ich in einen Kindergarten komme und ein Spiel auf den Boden lege, dass ich für mathematisch wertvoll halte, bin ich umringt von Kindern, die mit mir spielen wollen. Zwang braucht es dazu nicht, aber anbieten muss man es. Komplexere Spiele muss man ja auch einführen.

    Ein mathematisches Spiel ist in diesem Sinne aber auch „Mensch ärgere dich nicht“?

    Alles, was Kompetenzen im Zahlenbereich oder im geometrischen Bereich mitfördert. Diese Art von Spielen brauchen, damit sie ihr volles Potenzial entfalten, Einführung und Begleitung. Begleiten ist schwierig, weil man wissen muss, wo man vielleicht besser mal den Mund hält und wo man mal nachfragt. Bei „Mensch ärgere dich nicht“ wäre so eine Frage: „Was musst du würfeln, damit du mich rausschmeißen kannst?“

    So entsteht ja auch Spannung beim Spielen…

    Genau. Spielbegleitung eben. Nicht aus dem Spiel eine Schulstunde machen, aber das Spiel aus der Position des Wissenden heraus einfach lenken.

    Es geht für die Pädagogen also darum auch wieder zu lernen Mitspieler, zu sein und mitspielend mathematisches Wissen so zu vermitteln, dass die Kinder es förmlich einatmen.

    Das haben Sie sehr poetisch formuliert. Wenn wir das Wort mathematische Bildungsarbeit ernst nehmen, braucht es jedenfalls mehr als eine Ecke mit Materialien, sondern wir brauchen auch Leute, die eine Ahnung davon haben, was in der mathematischen Entwicklung wichtig ist. Neben qualifiziertem Personal muss hier natürlich auch auf kleine Gruppen geachtet werden. Im pädagogischen Bereich haben wir aber schon ein Problem damit, junge Leute für diesen Bereich zu gewinnen und das zum Beruf zu machen. Die Gehälter sind einfach zu niedrig. Darunter leidet letztendlich die Qualität der Bildung.

    Und mit Brima wirken Sie dem entgegen?

    Wir versuchen dem entgegenzuwirken, aber alles können wir auch nicht. Wir geben Impulse und versuchen Interesse an weiteren Fortbildungen zu wecken. Die pädagogische Abteilung der Bildungsdirektion macht hier viele Angebote und wir hoffen, dass die Teilnehmer bei Brima auch diese Angebote wahrnehmen.

    Herr Gaidoschik, wir danken für das Gespräch.