Society | Nachruf

Prettauer Sozialismus

Anna Notdurfter Stolzlechner (1923 – 2021) – Ein Leben außerhalb aller gängigen Südtiroler Klischees.
Stolzlechner, Nanne
Foto: Thomas Wiedenhofer
„Gott schuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes schuf er ihn; als Mann und Frau schuf er sie“. Vor 2500 Jahren hat ein Schriftgelehrter den Satz geschrieben; er ist bemerkenswert. Zum einen werden Mann und Frau als Bild Gottes geschildert, zum anderen beschreibt er die gleichberechtigte Teilhabe von Frau und Mann an dessen Ebenbildlichkeit – was in der christlichen Rezeptionsgeschichte ohne Wirkung blieb.
Für die „Wiesa-Nanne“ hatte dieser Satz angeborene Gültigkeit, lange bevor die Bibel „in gerechter Sprache“ erschien oder die Ausstellung „Gott weiblich“ das männliche Gottesbild hinterfragte.
Die gebürtige Prettauerin Anna Notdurfter Stolzlechner war tiefgläubig, auch wenn sie keine Kirchengeherin war und lieber den Pfarrer aufsuchte und einlud, um mit ihm zu diskutieren. Sie lebte ihr Leben in einer natürlichen Auffassung von Gleichwertigkeit, Selbstbestimmung und persönlicher Freiheit, was ihr in ihrer Heimat – dem Ahrntal – und auch darüber hinaus Bewunderung und Respekt, sicher auch Unverständnis und Kritik entgegenbrachten.
„Ich habe einen tiefen Glauben. Aber aus Tradition hängt bei mir nichts.“ Den vorletzten Papst mochte sie nicht, also befand sich von ihm kein Bild in der Stube. Wessen Bild sie auf der Truhe stehen oder an der Wand hängen hatte, das war abgewägt, das waren nur Menschen, die ihr lieb gewesen waren im Leben, Verstorbene und auch Lebende.
„Der Papst hat zu den Kardinälen gesagt, sie sollen sich die Unterhosen selbst waschen, denn er wäscht sie sich auch selbst. Deswegen habe ich von Franziskus ein Bild hier in der Stube hängen. Er hat den Frauen die Würde zurückgegeben, dass wir nicht immer zur Verfügung stehen müssen.“
Sie haben immer gewusst, dass ich ein bisschen eine Egensinnige bin.
Auch hoch 90jährig, mit einem Oberschenkelhalsbruch auf der Ofenbank liegend, strahlte sie eine Kraft und Besonnenheit aus, die sich aus ihr selbst nährten. Sie trug Hosen, als dies noch verpönt war, sie rauchte Nazionali auf offener Straße, sie schämte sich nicht, als sie ledig schwanger wurde, dass sie bereits zwei Kinder hatte, bevor sie heiratete und noch fünf weitere bekam, sie engagierte sich in einer Oppositionspartei: Nicht um aufzufallen oder anzuecken, sie tat es, aus einem Selbstverständnis heraus, weil der Sinn für Gerechtigkeit und Meinungsäußerung ein ihr angeborener war. Und weil sie – anders war.
 
 
„Ich war schon in der Schule ein wenig anders. Und auch als Lehrerin war ich anders. Gleich nach der Option habe ich begonnen zu unterrichten, die Kinder der Optanten, die sich für die Abwanderung entschlossen hatten, die hatten zuvor ja noch nie Deutsch in der Schule gelernt und sollten nun vorbereitet werden für die Zeit in Österreich oder Deutschland. Und 1943, nach dem Einmarsch der Deutschen, sind mir die Kinder der Dableiber, die das Italienische gewählt hatten, überstellt worden. Ich habe gerne unterrichtet, aber der Pfarrer hat mir das Lehrerin-Sein verdorben. Ich habe gerne Hosen getragen. Ich bin unter Buben aufgewachsen und habe mich immer gut mit ihnen verstanden. Da hat er zu mir gesagt, wenn ich hier als Lehrerin arbeiten möchte, soll ich mir einen Kittel anlegen und nicht Hosen, so habe ich das Unterrichten lassen. Nicht wegen des Kittels, denn der wäre nicht das Problem gewesen. Aber ich wollte mir von ihm keine Vorschriften lassen machen. Von niemandem.“
Auch mit 97 noch strahlte sie eine Ausgeglichenheit und Stärke aus, als wäre sie die junge von den Männern talauf und abwärts verehrte Hüttenwirtin, die sie einst war, eine Frau, die mancher gerne geheiratet hätte, die sich aber nicht binden wollte, sondern bewusst sich Väter für ihre Kinder suchen.
„Ja das mit den zwei ledigen Kindern war so eine Idee von mir, sie sind mir nicht passiert, ich habe mich für sie aus ganzem Herzen entschieden. Ob es modern war, weiß ich nicht, aber ich habe mir nie etwas gefallen lassen. Ich weiß nicht, ob dadurch mein Leben schwieriger war. Ich habe nicht gewusst, was schwierig ist, und was nicht schwierig ist. Ich habe es so genommen, wie es ist, und es nicht hinterfragt. Ich wollte mir selber treu sein.“
Ja das mit den zwei ledigen Kindern war so eine Idee von mir, sie sind mir nicht passiert, ich habe mich für sie aus ganzem Herzen entschieden.
Schon als Kind, so meinte sie, war sie anders, ihre Eltern haben dagegen nie etwas gesagt, als der Vater ihr – als sie 14 oder 15 war – eine Ohrfeige verpassen wollte, hat sie gekontert: „Untersteh dich, diese Zeiten sind vorbei“. Er sei gegangen und habe nie wieder dergleichen versucht: „Sie haben immer gewusst, dass ich ein bisschen eine Eigensinnige bin.“
 
 
Ihr Vater Johann Notdurfter, Wirt und Hofbesitzer, war eine Persönlichkeit im Tal, er war der erste Feuerwehrkommandant, er war so etwas wie ein Ortvorsteher in der nationalsozialistischen Zeit, er gründete den Skiclub. Beim Gasthaus an der Wiese gab es auch einen der ersten Skilifte, noch lange vor der Eröffnung des Skigebiets Speikboden. Nicht nur Einheimische, auch Touristen tummelten sich hier, die nach Sand kamen, um sich von Leber-, Gallen- und Nierenleiden heilen zu lassen.
Als Tochter des Gasthofes Wieser – in dem gar einige Töchter aus Südtirols besserem Hause kochen lernten – hatte sie für damalige Zeiten eine fundierte Schulbildung genossen, hatte zwei Jahre lang eine Klosterschule in Bozen und Mühlbach besucht und war während des Nationalsozialismus zwei Jahre lang auf einer Bauernhochschule im deutschen Lorch. Trotzdem war sie sich nie zu stolz, um daheim auch Schafe und Kühe zu hüten, mit Mägden und Knechten zu essen, in der Landwirtschaft und dem zum Gasthaus gehörigen Hof zu arbeiten. Sie hat es auf dem Feld „genossen“. „Ich konnte jeden Vogelgesang nachahmen.“
Anpacken konnte sie immer – auch als Hüttenwirtin auf der Schwarzensteinhütte, „das war die schönste Zeit in meinem Leben, damals gab es noch nicht so viele Wanderer wie heute, wir waren eine Familie.“
Sie hat ein Jahr in Venedig gelebt, um auch anderes zu sehen und sich ihr Geld als Übersetzerin verdient, sie ist zur Entbindung des ersten Kindes zu einer Tante nach Cadore, um den Vater des Kindes nicht zu kompromittieren: „Ich wollte ganz unabhängig sein, so war ich immer.“  
Vor Schicksalsschlägen verschont hat sie das Leben nicht, ihr zweites Kind, Sohn Christian ist 1984 bei einem Brandanschlag in München gestorben, sie hat es verdrängt, um sich an das Gute zu erinnern. Sie hat es unterlassen, nach einem Schuldigen zu suchen, das hätte ihn nicht lebendig gemacht: „Was wahr ist, das ist leider allzu oft relativ.“
Die Männer haben uns Frauen ja auch nur als Gebrauchsgegenstände behandelt, der Unterschied war nur der, dass die Geistlichkeit das Anliegen der Männer gutgeheißen hat.
Was heute viele üben, um mit dem Alltag besser zurechtzukommen, nämlich das Jetzt anzunehmen und das Beste daraus zu machen, anstatt in der Vergangenheit zu stöbern und zu leiden, das hatte sie verinnerlicht, nicht weil sie es gelernt hätte, sondern da sie so war.
„Ich schaue gelassen und versöhnt auf mein Leben zurück, weil ich der Meinung bin, dass alles so sein soll, wie das Schicksal ist. Der Verstand allein könnte nicht begreifen, warum etwas so ist und etwas so. Man muss etwas hinnehmen, wenn es anders nicht ist. Wenn mir ein Sohn getötet wird, kann ich es mit dem Verstand nicht verstehen. Man weiß, was man gehabt hat, sobald man es verloren hat. Wer hätte denn jemals geglaubt, dass ich hier liegen muss und nicht mehr weiter komme?“
Als der Familie das Gasthaus und die Besitztümer verloren gingen, heiratete sie, obwohl sie das eigentlich nie wollte. „Ich wollte Kinder. Die Männer haben uns Frauen ja auch nur als Gebrauchsgegenstände behandelt, der Unterschied war nur der, dass die Geistlichkeit das Anliegen der Männer gutgeheißen hat. Das habe ich dem Pfarrer schon einmal sagen müssen, als er mir die Kommunion brachte, ihr Geistlichen habt uns Frauen zu Gebrauchsgegenständen degradiert. Und in einer Ehe war das dann noch schlimmer. Und er hat mir Recht gegeben. Aber diese Zeiten sind jetzt hoffentlich vorbei.“
Sie war eine Freundin und Verehrerin des Idealisten Alexander Langer, sie war Mitstreiterin in der Partei von Egmont Jenny, war die einzige Gemeinderätin vor Ort, die nicht bei der SVP war, interessierte sich für die europäische Politik bis zuletzt, für die Südtiroler und die italienische nicht mehr.
 
Angst vor dem Tod war ihr fremd, sie sah ihm gelassen entgegen, wie allem.  
Wenn man so viele Höhen und Tiefen erlebt hat und nicht mehr aufstehen kann, so ist es nicht einfach. Geklagt hat sie nie. „Wenn man keinen Schritt machen kann, ist niemand froh. Und ins Dorf mit dem Rollstuhl geht auch nicht, da kommt dann jede Minute jemand und fragt mich, wie es mir geht. Das mag ich nicht, immer das gleiche wiederholen. Ich lasse mich nicht gerne „ausfratschln“. So bin ich jetzt eben nur mehr daheim. Und habe eine Pflegekraft. Ich verstehe mich mit allen Betreuerinnen gut. Ich achte sie. Sie haben kein einfaches Leben, immer von zu Hause weg, ich achte sie und sie haben mich gern, ich bin keine extraische, das liegt mir nicht. Und es ist auch gut so, dass sie da sind, meine Kinder haben ja ihre eigenen Familien. Ich bin dankbar. Auch für diese Zeit. Ich nehme den Tag so, wie er ist, ohne Freude und ohne Leid.“
Angst vor dem Tod war ihr fremd, sie sah ihm gelassen entgegen, wie allem.  
„Ich komme an den rechten Ort, weil ich tiefgläubig bin, ich weiß, wie das geht. Die Materie kommt von den Eltern und deren Eltern, diese zerfällt und es bleibt nichts mehr. Doch die Seele bleibt. Nicht das Herz. Davon bin ich überzeugt. Die Seele lebt weiter. Deswegen schaue ich, ordentlich zu leben. Natürlich Mensch bleibt man, und weil es der Himmelsvater war, der uns erschaffen hat, weiß er schon, was im Menschen menschlich ist. Wir sind alle Menschen, das weiß der Herrgott schon. Deswegen wird nicht alles vorbei sein, wenn es vorbei ist.“
Auch wenn sie auf der Ofenbank lag, ihre Augen traurig waren, lächelte sie doch. Die Stube war von ihrer besonderen Ausstrahlung erfüllt, ein wenig wie ein heiliger Raum, der einen flüstern ließ. Es mochte vielleicht von hoch oben klingen, was sie sagte; etwas Besseres sein, das wollte sie nie. Sie wollte nur ihr Leben leben, nicht das einer anderen. Sie wollte sich selbst treu sein. Sie war ihr Leben lang auf der Suche. Jetzt wohl hat sie den Frieden gefunden, der ihr so wichtig war und dem zuliebe sie vieles nicht erzählte.
„Tu nur selber schauen auf dich, andere schauen nicht auf dich. Mach das besser selbst. Lebe dein Leben. Also deines. Ich versuche das immer noch, täglich ermahne ich mich. Sei kämpferisch und wählerisch, mit wem du Umgang pflegst und plauderst. Sei einfach du. Dann freust du dich auch im Alter jeden Tag, weil alles, auch ein Schmerz, seine Richtigkeit hat.“
 

Fotos: Thomas Wiedenhofer