"Der Heilige Geist ist kein Gewerkschafter"
Das Gebäude steht malerisch in einem Wald in den Albaner Bergen südlich von Rom. Hier, im Exerzitienhaus des Ordens der Paolini verbringt Jorge Mario Bergoglio den Jahrestag seiner Wahl zum Oberhaupt der katholischen Kirche. Mit sechs Besinnungstagen, ganz im Geiste seines Ordensgründers Ignatius von Loyola. Der Tagesablauf mit Meßfeier, Meditationen und Vesper ist rigide.
Zum Feiern sieht der Papst keinen Anlaß. Er ist ohne seine Sekretäre mit dem Bus angereist , hat einen unbekannten römischen Pfarrer zum Exerzitienmeister ernannt. Fotos zeigen ihn in der dritten Reihe inmitten anderer Teilnehmer. Nur sein weißer Talar hebt sich ab. Es sind Gesten der Einfachheit und Demut, an die sich die Gläubigen in den ereignisreichen zwölf Monaten seit der überraschenden Kür des Argentiniers gewöhnt haben. Es ist ein Papst, der die Kirche eher durch Gesten regiert als durch Enzykliken. Nichts verabscheut Franziskus mehr als das "Hofgehabe", das er als "Lepra des Papsttums" anprangert. Seit seinem Amtsantritt stehen die damastbespannten Gemächer der päpstlichen Wohnung im Apostolischen Palast leer, die gepanzerten Luxuslimousinen mit dem Nummernschild SCV 1 in der Garage. Zum Flug nach Brasilien bestieg seine Heiligkeit eine Linienmaschine, beharrte darauf, seine Tasche selbst zu tragen.
Ein Pontifex, der direkt und ohne theologische Schnörkel ausspricht, was er denkt. Der Homosexuelle nicht verurteilt, zur Toleranz gegenüber gescheiterten Paaren auffordert und seine Allergie gegen Klerikale bekundet: "Wenn ich einen Klerikalen begegne, werde ich schnurstracks antiklerikal." Der 78-jährige mischt seinen Botschaften häufig eine Portion Humor und Ironie bei: "Der heilige Geist ist kein Gewerkschafter, der nach acht Stunden die Arbeit niederlegt." An die Gläubigen die er auffordert, "bei der Verkündung des Evangeliums nicht dreinzuschauen wie bei einer Beerdigung", richtet er schnippische Fragen: "Wann habt ihr das letzte Mal gebeichtet? Vor zwei Wochen oder vor zwei Jahren?"
Die Sympathiewelle, die dem unorthodoxen Papst entgegenschlägt, ist gewaltig. "E' l'udienza" stöhnt der Taxifahrer Mario resigniert und stellt den Motor ab. Es ist Mittwoch, Tag der wöchentlichen Generalaudienz des Papstes. Zehntausende strömen in gleissendem Sonnenlicht zum Petersplatz. Pilgergruppen quellen aus Hunderten von Autobussen. Seit Franziskus zum
Kirchenoberhaupt gekürt wurde, ist das Verkehrschaos am Tiber vorprogrammiert. Die Zahl der Rom-Reisenden ist um 20 Prozent nach oben geschnellt, bis zu 12.000 Autobusgenehmigungen werden täglich ausgestellt, die Zahl der Argentinier ist um 67 Prozent angestiegen.
Franziskus ist in wenigen Monaten zu dem geworden,was er um keinen Preis sein will: zum umjubelten Superstar, der es auch auf das Cover des Rockmagazins Rolling Stones geschafft hat. "Es ist beleidigend,mich als Star zu bezeichnen. Der Papst ist ein Mann, der lacht und weint, ruhig schläft und Freunde hat wie alle. Ein ganz gewöhnlicher Mensch", versichert Bergoglio. Normalität und Athentizität sind die Erfolgsrezepte des Kirchenoberhaupts. Den Zehntausenden am Petersplatz winkt er nicht durch das Panzerglas des Papamobils zu, sondern aus einem offenen Jeep alter Bauart, den er immer wieder anhalten läßt. Ein Papst zum Anfassen, der nicht gequält lächelt wie sein Vorgänger, sondern aus vollem Herzen lacht und der keine Probleme hat, sich auch von Frauen umarmen zu lassen. Einer, der spontan den Hörer abnimmt und Gläubige anruft, die ihm geschrieben haben. "Ich habe eine alte Frau angerufen, die ihren Sohn verloren hat. Sie hat sich riesig gefreut. Deshalb melde ich mich jetzt monatlich bei ihr. Ich bin Priester und bereite gerne Freunde".
In wenigen Monaten hat Bergoglio den Vatikan tiefgreifend verändert. Der Mißbrauchsskandal, die Vatileaks-Affäre mit Verhaftung des päpstlichen Kammerdieners, die Skandale um die Vatikanbank IOR - all das scheint Lichtjahre entfernt. Die umstrittene Bank veröffentlichte erstmals eine Bilanz, der Generaldirektor und sein Stellvertreter mußten zurücktreten. Mit der Ernennung einer achtköpfigen Kardinalskommission hat er eine kollegiale Kirchenführung etabliert und den Einfluß der mächtigen Kurie nachhaltig geschmälert. Der umstritte Staatssekretär Tarcisio Bertone mußte seine Machtposition räumen. Was Franziskus zu verkünden hatte, war für Gläubige gewohnungsbedürftig: "Die Kirche kann sich nicht ständig mit Scheidung, Abtreibung oder Homosexualität beschäftigen". Oder: "Wer bin ich, um über einen Schwulen zu urteilen?"
Die Popularität des Papstes ist so verlockend, daß ihm der Großverlag Mondadori jetzt ein eigenes Wochenmagazin widmet: Il mio papa. Auflage der ersten Exemplare: drei Millionen. Verkehrte Welt: das Kirchenoberhaupt, das "Gesprächigkeit und Klatsch" anprangert, avanciert zum Lieblingsobjekt der Boulevardpresse. Dagegen kann sich der populäre Pontifex nicht einmal
auflehnen. Denn nach seiner Überzeugung "muß die Kirche endlich aufhören, den moralischen Lehrmeister zu spielen."