Aktivierung zukünftiger BürgerInnen
Die historischen Tiefpunkte der europäischen Geschichte können nur überwunden werden, wenn sie im Hier und Jetzt kritisch hinterfragt, reflektiert und im gegenwärtigen Diskurs als Mahnmal aufgearbeitet werden. Denn die politische Bildung der BürgerInnen sowie eine selbstreflektierte Gesellschaft sind Voraussetzungen für ein würdevolles Zusammenleben. Unter diesem Credo haben die gemeinnützigen Bildungsvereine Arci und Arciragazzi Bozen sowie Arci del Trentino die Projektkette politischer Jugendbildung der „Piattaforma della Memoria e della Cittadinanza Attiva“ (Plattform der Erinnerung und der aktiven Bürgerschaft) ins Leben gerufen. Die Grundidee dabei ist der Aufbau aktiver Bürgerschaft durch non-formale Bildungsinitiativen für junge Menschen von 16 bis 25 Jahren, welche eine Erinnerungskultur im Sinne eines gemeinnützigen Reifungsprozesses schaffen und fördern sollen. Die Projekte der Plattform entspringen der Kollaboration der Ämter für Jugendpolitik und -arbeit (uffici delle Politiche giovanili) von Bozen und Trient und gehören somit zu den wenigen Jugendbildungsprojekten auf gesamtregionaler Ebene.
Die Entwicklung der Plattform der Erinnerung und aktiven Bürgerschaft begann bereits im Jahr 2011, in welchem das erste „Campi della Legalità“ (Antimafia Camp) organisiert wurde, welches im darauffolgenden Jahr durch den „Viaggio della memoria“ (Reise der Erinnerung), heute „Promemoria Auschwitz“, ergänzt wurde. Um die Erinnerungsorte des Völkermordes während des Bosnien- und Herzegowina-Konflikts zu erkunden, entstand im Jahr 2017 das Projekt „Ultima Fermata Srebrenica“ (Endstation Srebrenica), welches den Anstoß für die Verbindung der jeweiligen Projekte zu einer Produktionskette politischer Bildung lieferte. Neben den benannten Grundprojekten wird das Exkursionsangebot stetig erweitert, wie etwa mit den Projekten „Anni di piombo“ oder „On the Road“.
Andrea Rizza Goldstein, Mitglied der Arbeitsgruppe Bürgerschaft von Arci und Arciragazzi Bozen und Kontaktperson für verschiedene Bürgerschaftsprojekte auf Landes- und Regionalebene, eröffnet im Gespräch, dass alle ebengenannten Projekte die Grundthematiken „der Menschenrechte und des Rechtsstaates teilen und somit von einem unleugbaren roten Faden durchzogen werden“. Den jungen Menschen wird durch die greifbare und interaktive Vermittlung historischer Schauplätze, wie im KZ Auschwitz oder in der Stadt Srebrenica, und Mahnmäler aktueller Geschehnisse, wie die beschlagnahmten Grundbesitztümer der italienischen Mafia, das Bewusstsein gegeben, das aktuelle gesellschaftliche sowie politische Geschehen beeinflussen zu können. Denn die zeitliche Nähe der historischen Ereignisse und der Bezug der Vergangenheit auf die Gegenwart ermöglicht den TeilnehmerInnen eine tiefgreifende Interaktion mit den lokalen ZeitzeugInnen sowie den jeweiligen Orten, was zu deren Sensibilisierung, Bewusstseinsstiftung und kritischer Reflexion beiträgt.
Es geht darum eine Synergie zu erarbeiten zwischen individuellen formalen Bildungswegen und der direkten Erfahrbarkeit.
Die Elemente der sinnlichen Erfahrbarkeit in Gesprächen, bei der Mitarbeit oder im Mitfühlen sind zentrale Aspekte des non-formalen Bildungsansatzes, die bei den Projekten der Plattform verfolgt werden. Dies entspricht dem „Life-wide-Learning“-Konzept, womit die Bewusstseinskreierung über alle erdenklichen Erfahrungsweisen gemeint ist, so Goldstein. Hierzu kommt das „Life-long-Learning“-Prinzip, welches etwa im generationenübergreifenden Austausch zwischen TeilnehmerInnen, TutorInnen und Lehrenden in der gemeinsamen Arbeit verwirklicht wird.
Alle Projekte der Plattform gliedern sich in drei interaktiven Phasen: Als Vorbereitung für die anstehende Reise zu den jeweiligen Kulturorten wird den jungen TeilnehmerInnen ein Werkzeugkasten von Wissen, Denkanstößen, spezifischen Einsichten, Kritiken und Perspektiven zur Verfügung gestellt, welcher in der Gruppe unter Berücksichtigung persönlicher Erwartungshaltungen und Ansichten diskutiert und erarbeitet wird. Während der Bildungsreise werden Eindrücke und Erfahrungen unter Einbezug des zuvor ausgearbeiteten Werkzeugkastens gesammelt, welche gemeinsam am Ende der Kulturreise rekapituliert und resümiert werden.
Zudem ist hervorzuheben, dass die einzelnen Projekte der Plattform der Erinnerung und aktiven Bürgerschaft in der Logik eines zirkulären Prozesses miteinander verwoben sind, um Wissen, Erfahrungen und Perspektiven im gemeinsamen Austausch zu vermehren und zu vertiefen. Der Einstieg junger Menschen in das Bildungsangebot der Plattform kann dabei frei nach Interesse mit jedem beliebigen Projekt erfolgen.
Bisher ist die Plattform der Erinnerung und aktiven Bürgerschaft eine langjährige Erfolgsgeschichte, die bereits einer Vielzahl von jungen Menschen zu Selbstreflexion und kritischen Hinterfragung angeregt haben. So untermauert auch Andrea Rizza Goldstein: „Nach jedem Projekt wird in den Augen aller Beteiligten ersichtlich, welch‘ breiten Mehrwert wir im Zuge unserer Reisen gemeinsam erarbeiten, sowohl in persönlichen Aspekten der Entfaltung als auch in Prozessen der Bewusstseinsschaffung“.
Ein Beitrag von Carolin Gamper.