Ungleichheit tötet Wirtschaftswachstum

Mit seinem Bestseller „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ hat Thomas Picketty international eine große Debatte über die Vermögens- und Einkommensungleichheit und die damit verbundenen Probleme entfacht. Die neue These, dass eine steigende Einkommensungleichheit eine zentrale Ursache für geringes Produktivitätswachstum beziehungsweise gesamtwirtschaftliche Instabilität sein kann, erntet immer größeren Zuspruch. Die entsprechende Forschung wurde insbesondere vom Internationalen Währungsfond (IWF) und von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) vorangetrieben – das Datenmaterial ist also grundsolide und glaubwürdig. Eine kürzlich durchgeführte Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) belegt, dass die Mittelschicht in Deutschland schon seit Beginn der 90er Jahre zusendend schrumpft und die Einkommensverteilung immer ungleicher wird.
In den Diskussionen über diese Frage treffen wie so oft verschiedene Schulen aufeinander: Der klassische, noch immer vorherrschende Ansatz der Wirtschaftstheorie geht von einem grundsätzlichen Zielkonflikt zwischen Effizienz und Gleichheit aus. Maßnahmen zur Umverteilung von Einkommen wären also gezwungenermaßen mit Wachstumseinbußen verbunden, weil höhere Steuern und Abgaben die individuellen Leistungsanreize belasten und damit die Produktivität bremsen würden. Soweit die eine Theorie.
Der neue, alternative Ansatz stützt sich auf die empirische Tatsache, dass Länder mit höheren Einkommensungleichheiten - gemessen am Gini-Koeffizient für die verfügbaren Haushaltseinkommen - in den vergangenen Jahrzehnten ein geringeres Wirtschaftswachstum verzeichnet haben als solche mit geringer Einkommensungleichheit.
Insbesondere eine hohe Ungleichheit der Einkommen stellt Länder vor verschiedene Probleme: Eine zentrale Frage ist, wie bei hoher Einkommensungleichheit eine hinreichend große Nachfrage generiert werden kann, um eine hohe Arbeitslosigkeit zu verhindern. Eine Schlüsselrolle nimmt hier der private Konsum ein: in entwickelten Volkswirtschaften macht er zwischen 60 und 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Wenn sich im Zuge steigender Ungleichheit die Einkommen von weiten Teile der Bevölkerung nur schwach entwickeln, droht entweder eine Überschuldung der privaten Haushalte, wenn die unteren Einkommensgruppen ihren Konsum kreditfinanziert hochhalten (wie es vor der Wirtschaftskrise 2008 in den USA der Fall war), oder ein gesamtwirtschaftlicher Nachfrageausfall.
Hohe Ungleichheit hat aber noch weitere negative Effekte. Wenn relativ einkommensschwache Personen nicht in der Lage sind, eine gute Ausbildung und Gesundheitsversorgung zu finanzieren, impliziert dies eine Schwächung des Humankapitals mit langfristigen negativen Auswirkungen auf das Produktivitätswachstum und Wettbewerbsfähigkeit. Ganz abgesehen von den gesellschaftlichen Folgen: Das Auseinanderklaffen der Wohlstandsschere gefährdet nämlich die politische Stabilität und fördere Korruption und Kriminalität.
Von dieser Warte aus betrachtet macht eine stärkere Besteuerung der Kapitaleinkommen und eine Reduzierung der Besteuerung der Arbeitseinkommen Sinn. Auch die Forderung nach einer Vermögenssteuer bzw. einer stärkeren Besteuerung von Erbschaften kann nicht leichtfertig mit dem Argument der unerwünschten Belastung von Betriebsvermögen abgetan werden. Auf den ersten Blick und nur für sich betrachtet mag ein staatlicher Eingriff zur Umverteilung der Einkommen eine negative Anreizwirkung haben, in der Regel sind die Effekte auf Wachstum und Gemeinwohl laut Studien jedoch positiv.
Stefan Perini ist Direktor des Arbeitsförderungsinstituts AFI.