Europa ohne Europäer?
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Die einfache Frage, welches Europa wir wollen, lässt die Vermutung zu, dass es mehrere Alternativen gibt. Für uns gibt es aber nur eine: die Schaffung gemeinsamer Regeln mit einer klaren Ausrichtung auf die Interessen der Bürger in einer demokratischen, handlungsfähigen und sozialen Union. Arbeit und ihr sozialer Wert müssen wieder in den Vordergrund treten.
Die Europäische Union war ein Projekt, das von der großartigen Idee getragen war, die Völker Europas in Frieden und Wohlstand zu vereinen. Sie war die Antwort auf Faschismus, Weltkrieg, Völkermord, Gewalt und Verfolgung. Sie war die soziale und demokratische Antwort auf die Diktaturen der Vorkriegszeit und den Totalitarismus jenseits der Berliner Mauer.
Die soziale Marktwirtschaft sollte den Bürgern und Bürgerinnen Frieden und Wohlstand garantieren und nicht nur ein Bündnis zwischen Wirtschaftspartnern sein. Nach dem Fall der Mauer verfolgte man allerdings zumeist die Interessen der Wirtschaft. Der freie Kapital- und Warenverkehr waren die Leitlinien des neuen erweiterten Europas, Sparprogramme und ein Abbau sozialer Rechte die Folgen.
Das Ergebnis ist immer mehr ein Europa ohne Europäer, denn jene Bürger, die mehr für die gemeinsame Sache beisteuern müssen, fühlen sich beraubt (die nördlichen Nachbarn) und wer diese Hilfe empfängt, gedemütigt. Die Idee einer gemeinsamen Union, in der die Bürger der einzelnen Nationen sich nicht mehr gegenseitig beargwöhnen, wird immer mehr in Frage gestellt.Als Gewerkschaft beobachten wir diese Entwicklungen mit großer Sorge. Demokratie, Solidarität und Gemeinschaftssinn sind grundlegende Elemente für gewerkschaftliches Handeln und die Voraussetzung für konkrete Verhandlungsspielräume. Arbeit braucht aber auch Investitionen und eine gesunde Realwirtschaft und nicht nur funktionierende Finanzmärkte.
Es braucht bessere Löhne und mehr soziale Rechte und einen kontinuierlichen Ausgleich zwischen den gegensätzlichen Interessen der Arbeitnehmer und dem Kapital. Leider stehen wir vor dem Dilemma, dass die Wirtschaft global agiert, während die ArbeitnehmerInnen sich nur langsam dieser Entwicklung anpassen.
In Zukunft ist eine gewerkschaftliche Zusammenarbeit auf internationaler Ebene wichtig. Dies ist eine Entwicklung, die nicht nur aufgrund des Abbaus der Grenzen und des freien Verkehrs von Menschen und Gütern in einem neuen Europa unvermeidbar ist. Die Rückkehr zu nationalstaatlichem Denken ist in einer vernetzten Welt nicht nur unrealistisch, sie wäre sogar gefährlich, wie auch die aktuellen kriegerischen Auseinandersetzungen zeigen. In einer strategischen Neuausrichtung der Welt kann nur ein geeintes Europa politisch und wirtschaftlich auf der Weltbühne eine Rolle spielen.Mit dem Vertrag von Lissabon wollte man die Rolle der Regionen stärken. Die Frage, welche Rolle die Regionen in der EU als institutionelle Einrichtung mit gesetzgeberischer Befugnis haben, bleibt allerdings unbeantwortet. Dieser Aspekt ist für Südtirol aber wichtig.
Wie kann man nämlich ein handlungsfähiges institutionelles System auf drei Ebene aufbauen, wenn die Konsensfindung innerhalb der EU bereits jetzt kompliziert und manchmal auch derart schwerfällig ist, dass man viele Chancen einfach versäumt? Dabei gibt es seit Maastricht einen europäischen Rat der Regionen.Europa braucht in Zukunft bürgernahe Schaltstellen, die in der Lage sind, die europäische Politik umzusetzen. Die Regionen können, besonders in der heutigen politischen Krise, zur wirtschaftlichen Entwicklung und Innovation vieles beitragen, auch als Gegengewicht zu den nationalstaatlichen Egoismen, die letzthin in Europa aufflammen.
Ein Europa der Regionen könnte die Entscheidungen, die in Brüssel und Straßburg getroffen werden, näher an die Bürger herantragen. Eine positive Zusammenarbeit der Regionen, über die traditionellen Grenzen hinaus, in Bereichen wie Verkehr, Gesundheit, Sicherheit, Bildung und Beschäftigung würde die Bürger zusammenbringen und im Alltag die Grenzen vergessen lassen.
Es gilt das Interesse der Bürger an einem demokratischen Europa neu zu wecken.
Demokratie auf europäischer Ebene darf nicht als eine Gefahr für die Eigenständigkeit der Nationen und als Beschneidung der Interessen des Einzelnen empfunden werden. Dies wäre längerfristig eine schwerwiegende Entwicklung, die nicht nur Europa in den Grundfesten erschüttern würde. Leider breitet sich diese Überzeugung in vielen Gesellschaftsschichten immer weiter aus. Die Verteidigung nationaler Interessen, Rechtspopulismus und lokaler Egoismus sind die Folgen.Hier muss man entschlossen entgegenwirken. Derlei Tendenzen sind nämlich mit einer demokratischen Entwicklung der Gesellschaft nicht vereinbar. Ohne Solidarität, ohne Suche nach einem Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessen, ohne Schutz der sprachlichen und kulturellen Eigenheiten, ohne eine Politik zur Überwindung sozialer und wirtschaftlicher Unterschiede, kann es kein glaubwürdiges Europa geben. Kommen diese Werte in einzelnen Ländern zu Fall, bricht Europa auseinander.
Das Ziel muss ein soziales Europa sein. Nach der wirtschaftlichen Integration gilt es nun die soziale Komponente als Zukunftsperspektive voranzubringen. Es gilt, die soziale Marktwirtschaft überall zu verankern und die Arbeit ins Zentrum dieser Strategie zu stellen.
Alfred Ebner