Culture | Salto Afternoon

Zwischen Pizza & Speckknödelsuppe

Samstag war das Highlight des jungen Festivals „Identity in Motion“: Kunst im öffentlichen Raum, im White Cube und mit Pedal-Antrieb luden ein, Leifers neu zu entdecken.
Sette finestre sul mondo
Foto: lasecondaluna
Den Anfang machte die Präsentation von sieben künstlerischen Positionen oder „Sette Finestre al mondo“ an den Fenstern des alten Rathauses durch den künstlerischen Leiter Nicolò Faccenda. Die sieben Kunstwerke, vier an der Front des Gebäudes, drei an der Seite waren, von links nach rechts von den Künstler:innen Laura Pan, Orlando Rojas, Sara Di Nasso, Andrea Proietti, sowie von Mike FedrizziSara Filippi Plotegher und Lorenzo Polato im Rahmen des Festivals realisiert worden. Wie lange sie das untere Stockwerk des baufälligen Gebäudes verschönern dürfen, wusste das Team von „lasecondaluna“ am Samstagabend noch nicht. Lang lebe die Bürokratie.
Pan realisierte dabei als einzige eine Position, welche über die Sperrholz-Platten, auf die direkt umliegende Baumasse hinaus ging: Ein Behältnis umgeben von weißen Punkten, als Sternenkonstellationen oder Schnee lesbar und als Quelle, oder Delta eines Füllungsprozesses zu lesen. Rojas Werk ein „maximalistisches Fest minimalistischer Künstler“, bunt und in Streetart-Ästhetik (genauer: Wildstyle), fand auf zwei Platten Platz. Ergänzt werden die poppigen Farben durch irisierende, als Sticker angebrachte Elemente, die sich wie die Schuppen des Regenbogenfisches ins abstrakte Bunt einfügen, das der Kolumbianische Künstler auch als interkulturellen Kommentar verstehen will. Di Nasso, die dem Festival von der ersten Edition im letzten Jahr treu geblieben ist, fügt, unter auf schwarz gelben Grund, eine Tauschgeste ein.  Es ist das zweite von drei Doppelbildern. Identität und Bewegung der Geste, wer gibt und wer erhält sind in der Miniaturisierung des Motivs gegen einen großen, schwarzen Horizont nicht ablesbar, bedeutungslos. Proiettis Beitrag, ein geometrisches, strikt zweidimensionales Stillebben einer Pflanze in einer Vase, direkt unter dem Rendering des Gebäudes, dem das alte Gemeindegebäude Platz machen soll positioniert, greift das Material des Hauses (etwa den Porphyr) in den sorgfältig gewählten Pigmenten farblich auf.
Um die Ecke positioniert sich erst Fedrizzi, der seinem Werk den Titel „Il guardiano“ gibt. Dieser ist, so erklärt der Künstler aus den halb-abstrakten, halb figurativen Elementen am Kopf der Figur als frei assoziative Improvisation gewachsen. Es zeigt sich dabei eine Formensprache ähnlich jener des Futurismus, die geradlinig ziselierten Gesichtszüge und leeren Augen des Wächters erinnern an die Plastik eines Athleten. Filippi Plotegher schafft am dritten Doppelbild, auf schwarz weißen Karos ein Fenster zur Hybridisierung, kombiniert Menschen und Ziegenkörper, die Fingergesten der Mano cornuta und eines Schattenhundes ironisieren zwischen den ungleichen Verbindungen, steigern die Absurdität. Die Orientierung des Kunstwerkes ist dabei wie beliebig, es ließe sich auch um 90° drehen, oder auf den Kopf stellen. Abgeschlossen werden die Positionen von Polato, der Gesichter in kubistischer Manier auflöst, Identität damit hinterfragt: In der Abstraktion sind auch Nasen, Münder, Ohren und Augen nicht mehr Identitätsstiftend.
 

Fahrrad betriebene Projektionen

 
In Zusammenarbeit mit dem Projekt „CicloCinema“ wurde der Strom für die nächsten beiden Programmpunkte durch Muskelkraft geliefert: Auf neun Fahrrädern konnte man aufsteigen und die eigene Muskelkraft in eine Batterie einfließen lassen, während man der meditativen Performance „Polarized View“ von Martina Dal Brollo, musikalisch begleitet von Daniele Chini am melodisch-perkussiven Hang, folgte. Oder, anschließend, dem Mockumentary „primAscesa. La montagna creata dall’uomo“, der unter anderem den „Premio CinemAMoRE“ des letztjährigen Trento Film Festival für sich gewinnen konnte, die nötige Energie beisteuern.
 
 
Für „Polarized View“ wurden am Nachmittag des Vortages gemeinsam mit Freiwilligen im Stadtgebiet Plastikmüll gesammelt, der nun, zwischen Drehscheibe und Projektor seiner Bestimmung zugeführt wurde: Als Farbgeber für mit Hilfe eines Filters erzeugter Spannungsoptiken. Dabei legte die Dal Brollo ausgewählte Stücke auf die sich drehende Fläche, wie auch transparente Plastikstücke mit Textauszügen aus Italo Calvinos „Le città invisibili“, genauer zur Müllmetropole Leonia. Während man in Pedale tritt kommt man bei der zyklischen Wiederholung, die von Musik steigender Intensität begleitet wird, der das Hang nur einen Rahmen, Einstiegs und gegen Ende bietet: Elektronisch und nach dringlich klingt es dabei,  was Chini zum Plastikmüll komponiert hat. Dringlichkeit entsteht, bis der Müll nach und nach wieder der Projektion entnommen wird. Auch das, wie die Bewegung - der Füße und der Projektion - ist zyklisch.
„primAscesa. La montagna creata dall’uomo“ sieht die Fahrradsessel ebenso vollumfänglich belegt. Ab und zu muss ein müde gewordener Radler auswechseln, dann kommt zum Surbeln der Dynamos noch eine Fahrradglocke dazu. Dass die Technik nicht ganz mitspielt - nur von der linken Box aus ist der Film klar zu hören - tut dem Erlebnis kaum einen Abbruch. Durch die Gruppen-Anstrengung entsteht nicht nur Strom, sondern auch ein Gemeinschaftsgefühl: Man weiß, wofür man strampelt.
 
 
Die Bergsteiger Simon (Sartori) und Giovanni (Moscon) behandeln dabei die „Erstbesteigung“ eines Müllbergs mit augenzwinkernder Ernsthaftigkeit, samt Pickel, Steigeisen und Sicherungsseil. Dabei ist der Berg (300 Meter) keineswegs ein kleiner, aber die filmischen Tricks tun ihr übriges um uns die Dimensionen eines Müllberges erfahrbar zu machen: Erst zur „Abfahrt“ vom Gipfel mit Skiern bekommen wir aus der Dronen-Perspektive das Ausmaß im ganzen zu sehen. Man endet mit einer ebenso simplen, wie wahren Sentenz: „I rifiuti in montagna sono inaccettabili, ma anche una montagna di rifiuti lo è.“
 

Isolation und ein Stadtportrait

 
Im Anschluss an die Fahrrad getriebenen Vorführungen verlagerte sich das Festivalpublikum in Richtung der Galerie. Unmittelbar außerhalb dieser, zwischen Kirche und Friedhof, unter großen Zedern hatte Giulio Boccardi mit seinem Projekt „Primitivo“ den öffentlichen Raum bespielt. Der selbst gebaute „Biwak“ (Eigenbezeichnung des Künstlers) präsentiert sich als schwarzer Quader mit weißen Inzisionen. In die trocknende Farbe der schwarzen Planen hat Boccardi - außen und im Inneren der frei zugänglichen Arbeit geometrische Formen gekratzt, die an rätische Symbole angelehnt sind, ebenso allerdings an die Schaltkreise eines Computers erinnern können. Da kaum Licht ins innere der Struktur dringt, in welcher der Künstler auf Suche nach Inspiration und Spiritualität mehrere Nächte verbracht hat, muss der Besucher sein eigenes mitbringen, um mit Taschenlampe oder Feuerzeug die archaischen, rätselhaften. Symbole aus der Dunkelheit zu holen.
 
 
Die beiden, wenige Meter entfernten Ausstellungsräume wurden von Isabella Nardon und Jacopo Noera für ihre Schau „Miscellanea“ spielerisch genutzt: Außer Nägeln, Klebeband und einem Hocker, der ein Kunstwerk erhöht präsentiert arbeiteten sie mit dem, was die Bevölkerung ihnen gab: Sachspenden. Während in einem Raum die neu arrangierten Objekte ihren Platz finden, bietet der andere ihrer Handkarre, welche für das Einsammeln zum Einsatz kam, sowie einem Postkartenständer, aus dem sich der Besucher ein Souvenir nehmen kann, großzügigen Raum. Von hier erfüllt auch der als Loop aufgenommene, von einem Megaphon wiedergegebene Klang einer gespendeten Spieluhr die Gallerie, irgendwo zwischen Schlaflied und amerikanischem Ice-cream Truck.
 
 
Zum spielerischen Charakter der Schau passt dies gut: Alles ist bunt, oder zumindest mit farbenfrohen Akzenten versehen und an der Grenze zum Kitsch wird nicht gekratzt, sie wird eingerissen, mit kindlicher Freude an der Sache: Vieles nimmt dabei auch auf Aspekte des Tauschs, Gebens oder der Ökonomie Bezug, etwa ein Sparschwein, oder ein Stofftier Schwein, das mit, von einem oder einer Einwohner:in von Leifers gespendeten 30 Euro am Bauch an der Wand befestigt ist. An zwei angrenzenden Wänden einmal ein Pizzakarton, der mit Girlanden  und Nippes dekoriert an ein Siegerdiplom erinnert, an der anderen Wand ein kleiner Gedenkschrein für eine Speckknödelsuppe in der Dose. Leifers ist wohl irgendwas dazwischen. Dabei ist es interessant zu sehen, wovon sich die Leute trennen: Kaputtes zum einen (etwa ein Regenschirm dessen Spinne am Boden und dessen Schirm in eine andere Arbeit integriert ist), aber auch Dinge, die entweder zu kitschig oder zu selten Verwendung finden, wie Kostümartikel. Häufig dabei wiederum das Material Plastik, welches sich als Faden durch das Festival zu ziehen scheint.
Berührend dabei, das Gefühl von Liebe und Sorgfalt, welches sich auf Ausrangiertes überträgt: Nardon und Noera dachten vor Ort an, das Ausstellungskonzept an anderen Orten zu wiederholen und einen Vergleich zwischen verschiedenen Städten anhand ihrer Müllportraits anzustellen. Dabei wird sicher nicht alles über einen Ort gesagt, aber erschreckend vieles.